Ich warte jeden Montag Morgen schon auf Freitag Nacht...

Eine Kritik an den aktuellen Protesten gegen Sozialabbau

"Wir erwarten - ebenso wie die Gewerkschaft der Polizei -, dass es zu Handgreiflichkeiten und Gewalt vor und in den Arbeitsagenturen kommt," meinte kürzlich Paul Saatkamp, Bundesausschussmitglied der Arbeiterwohlfahrt (AWO), in einem Interview mit der Osnabrücker Zeitung (30.07.04) auf die Frage nach möglichen Reaktionen der Betroffenen auf die Hartz-IV-Gesetze. Gewalt und Aggression? Die gibt es schon längst, und Übergriffe in den Arbeitsämtern haben sich in den letzten Jahren drastisch gehäuft. Die neuen "Kundencenter" reagieren darauf schon jetzt mit verstärkten Sicherheitsvorkehrungen: Trenngläser sollen die Angestellten vor Wutausbrüchen schützen, und Sicherheitsdienste sorgen, wie etwa in Chemnitz und Halle, für Ruhe und Ordnung im Behördendschungel. Ob aus den Wutausbrüchen, die AWO und Polizeigewerkschaft gleichermaßen zu befürchten scheinen, eine Massenbewegung werden könnte, bleibt freilich abzuwarten.

Auch die in den Medien derzeit vielbeachteten "Montagsdemonstrationen" könnten sehr schnell in harmlose Bahnen gelenkt werden, indem sie von den üblichen AnhängerInnen des sozialen Reformismus vereinnahmt werden: allen voran vom regierungsfreundlichen DGB, aber auch der staatsfixierten Organisation ATTAC und der systemkonformen PDS, die, wo immer sie selbst an Regierungen beteiligt ist, Kürzungen und Sozialabbau mitträgt. Die allwöchentlichen Proteste, deren TeilnehmerInnen sich aus der Masse der direkt oder potentiell von Hartz-IV und anderen Maßnahmen der Agenda 2010 Betroffenen rekrutieren, werden vermutlich nicht davon verschont bleiben, bald in den Genuss des typischen DGB-Demokultur-Standardprogramms - Bratwurstbuden, Fassbier, DGB-Fähnchen und Kappen - zu kommen, sodass die Unmutsbekundungen und Forderungen nach Kurskorrekturen letztendlich wahrscheinlich in - höchstens - minimale Gesetzesänderungen münden werden.

Dass sich die DGB-Gewerkschaften und andere pragmatisch-sozialreformerische Kräfte an den Protest anhängen können, ja sich an ihn heranwanzen und die aufrührerische Stimmung dadurch kanalisieren und abschwächen werden, ist besonders aufgrund des mangelnden emanzipatorischen Gehalts der Protestbewegung zu erwarten. Noch immer glauben viele an das unerfüllbare Glücksversprechen der bürgerlichen Ökonomie, die innerkapitalistische Möglichkeit eines "Wohlstands für alle" - ohne das System zu hinterfragen, das sie dazu zwingt, tagtäglich ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen, und ohne den Faktor Arbeit an sich und seine Rolle im Kapitalismus infrage zu stellen. Arbeit ist hier nicht nur ein Mittel der Ausbeutung, sondern auch ein Instrument zur Disziplinierung und Ruhigstellung der ausgebeuteten und entfremdeten Individuen. Treffend drückte es Friedrich Nietzsche aus, als er feststellte, "dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hält und die Entwicklung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht." Arbeit bedeutet im Kapitalismus nicht zuletzt die Entfremdung des bzw. der Arbeitenden von sich selbst. "Sie verbraucht außerordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen."

Hartz-IV ist ein Gesetzespaket, das durch finanziellen Druck und gesellschaftliche Ächtung des Arbeitslosenstatus die tatsächlich bzw. potentiell Betroffenen dazu nötigen soll, sich mit Hungerlöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen abzufinden - und zugleich die Noch-ArbeitsplatzbesitzerInnen zur Dankbarkeit für ihre (Dumpinglohn-) Jobs und ständiger Hochmotivation im Arbeitsalltag erziehen. Es ist ein Krisenbewältigungsversuch des politisch-wirtschaftlichen Systems, um das Lohniveau zu drücken, die gesellschaftlichen Verhältnisse aufrechtzuerhalten und Widerstand klein zu halten.

Die Protestbewegung spielt mit ihren Forderungen dem Funktionieren des Systems in die Hände, anstatt wirkliche Kritik zu üben, wodurch nie ein Ausbrechen aus der Spirale des Kapitalismus möglich werden wird. Dieser wird, wenn überhaupt, nur so weit kritisiert, dass einzelne PolitikerInnen, Staaten oder (global agierende) Konzerne an den Pranger gestellt werden und deren Immoralität beklagt wird, anstatt dass die Menschen ihre eigene systemstabilisierende Rolle in der Warengesellschaft als KonsumentInnen und willige Arbeitskräfte hinterfragen und aufzuheben versuchen. Eine simplifizierende Argumentation im Sinne von "böse KapitalistInnen und Regierung oben - armes, wehrloses Volk unten" verschleiert, dass Arbeit und Kapital zwei Seiten derselben Medaille sind.

Neben einer Überwindung dieser verkürzten Kritik des Kapitalismus wären revolutionäre Formen politischer Selbstbestimmung zu praktizieren: so z.B. politische Generalstreiks auf unbestimmte Zeit, massenhafte Besetzung von Fabriken und Betrieben und ihre Überführung in ArbeiterInnenselbstverwaltung, Hausbesetzungen und konkrete Wiederaneignung von Gütern durch Kaufhausklau (der Sieg des Gebrauchswertes über den Tauschwert!).

"Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen..."

Ein weiteres Manko der "Montagsdemos" ist der historische Hintergrund, auf den sie sich stützen: die Zeit um 1989, die so genannte "Wende", als der Nationalismus der Deutschen, das Großmachtsstreben der BRD sowie das völkische Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in Ost und West keine Schranken mehr kannte, was sich nicht nur in dem immer wieder skandierten Slogan "Wir sind ein Volk" manifestierte. Was damals schon ein Zeichen dafür war, dass die Deutschen ihre braune Vergangenheit und das Gedenken an ihre nazistischen Verbrechen gleichermaßen in diesem Freudentaumel vergessen machen wollten und weder links noch rechts, sondern nur noch Deutsche und Deutschsein kannten, äußert sich heute darin, dass viele der montäglichen DemonstrantInnen sich erschreckenderweise kaum daran stören, wenn Neonazis ungestört mit ihnen mitmarschieren, die gleichen Schlachtrufe krakeelen und ihre unmenschliche Propaganda verbreiten. (jungle world vom 11.8.04)

Das verwundert kaum in einer Zeit, in der "sozialer Patriotismus" (Sigmar Gabriel, SPD) Hochkonjunktur hat; in der Arbeitgebervertreter, die stolz erklären, dass sie ausschließlich in Deutschland produzieren, in Polit-Talkshows frenetischen Applaus dafür ernten, wenn sie ihre Konkurrenten, die Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, als "unpatriotisch" geißeln; in einer Zeit, in der sich Beschäftigte bei Verhandlungen über Lohn und Arbeitsbedingungen regelmäßig über den Tisch ziehen lassen, nur damit der "Wirtschaftsstandort Deutschland" für Investoren attraktiv bleibt; in einer Zeit, in der sogar die Belegschaften von arbeitsplatzverlagernden Global-Unternehmen wie Siemens oder Otis mit dem schwarz-rot-goldenen Banner in die Betriebsversammlungen einmarschieren, um ihre sozial-vaterländische Gesinnung zur Schau zu stellen.

Diese Identifizierung der Individuen über ein irrationales ideologisches Konstrukt namens "Volk" führt zur scheinbaren Aufhebung aller Klassenwidersprüche: die Einzelnen stellen ihre persönlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte hinter das herbeihalluzinierte "Gemeinwohl" einer nicht existierenden Interessengemeinschaft zurück, in der plötzlich deutsche Beschäftigte mit deutschen ArbeitgeberInnen in einem gemeinsamen Boot sitzen, in welchem nur die polnischen und türkischen ArbeitnehmerInnen nichts zu suchen haben. Aber erst, wenn alle Zwangskollektive aufgelöst sind, und die Menschen sich nicht als "Volk", sondern als Assoziation von freien Individuen begreifen, kann das bestehende Elend überwunden werden, und der Weg frei werden für eine klassen- und staatenlose Weltgesellschaft ohne Ausbeutung, Entfremdung, Diskriminierung und HERRschaft.

Für den rätekommunistischen Anarchismus!