2005

50 Jahre Bundeswehr sind 50 Jahre zuviel!

17.10.2005

50 Jahre nach der \"Wiederbewaffnung\" Deutschlands erweist sich die Bundeswehr für die Herrschenden als beispiellose Erfolgsgeschichte. Während die Gründung der westdeutschen Armee 1950 sowohl im In- wie auch im Ausland noch sehr umstritten war, unter anderem entwickelte sich gegen die Remilitarisierung eine der größten sozialen Bewegungen in Nachkriegsdeutschland, ist die Kritik heute weitgehend verstummt: Die deutsche Friedensbewegung schafft es nur noch dann, Tausende Menschen auf die Straße zu bringen, wenn die USA Krieg führen; diverse politische Parteien, die die Abschaffung der Bundeswehr in ihrem Programm hatten, wie etwa die Grünen oder die Linkspartei/PDS, haben sich längst mit dem Militär arrangiert, und die radikale Linke protestiert nur noch routiniert-gelangweilt, wenn mal wieder ein öffentliches Gelöbnis ansteht.

[]{.inline .inline-left}Dieser öffentliche Erfolg ist vor allem der rot-grünen Regierung anzulasten. Und dies, obwohl sie die \"Schritt für Schritt Politik\" der Vorgängerregierungen mit dem Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und damit mit dem ersten deutschen Waffengang nach dem Zweiten Weltkrieg, zu ihrem Abschluss brachte. Trotzdem ist es ihr gelungen, das Image der Bundeswehr in das einer Friedenstruppe zu verwandeln, in eine \"robuste NGO\", wie die \"Die Zeit\" schreibt (29.09.2005). Vergessen scheint, das es Hitlers Wehrmachtsgeneräle waren, die die Bundeswehr aufbauten, dass es in den zum Teil immer noch nach Wehrmachtsgenerälen benannten Kasernen immer noch sogenannte Traditionsräume gibt, in denen an die Tradition der Wehrmacht angeknüpft wird, dass sich die Bundeswehr jedes Jahr etwa in Mittenwald an Gedenkfeiern von Kriegsverbrechern beteiligt, und dass die rechtsradikalen \"Vorfälle\" in der Truppe keinesfalls \"Einzelfälle\" sind, wie die Politik gebetsmühlenartig betont.

Doch währenddessen wird die deutsche Freiheit nicht nur am Hindukusch verteidigt: Deutsche Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, in der serbischen Provinz Kosovo, in Mazedonien, in Georgien, in Usbekistan, im Mittelmeer, am Horn von Afrika, in Dschibuti, in Kenia, in Kuwait, in Äthiopien bzw. Eritrea, in Indonesien und demnächst wahrscheinlich auch im Sudan stationiert. Bundeswehrpanzer mit Totenkopf Für Afghanistan hat der Bundestag gerade eine Aufstockung der deutschen ISAF-Truppen auf 3.000 Personen beschlossen. Aber während in der Öffentlichkeit jeder Militäreinsatz der USA als \"imperialistischer Raubzug\" angeprangert wird, bei dem es nur um den Zugriff auf Rohstoffe geht, werden die deutschen Einsätze als \"humanitäre Friedenseinsätze\" verklärt. Niemand, außer der Bundeswehr selbst, kommt auf die Idee, die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die die Grundsätze der Truppe beinhalten, ernst zu nehmen. Denn dort sind als Einsatzgründe der Bundeswehr u.a. die Aufrechterhaltung des freien Welthandels, d.h. der kapitalistischen Ausbeutungsordnung und der Zugriff auf strategische Rohstoffe genannt. (Auch die Flüchtlingsabwehr wird als Einsatzgebiet der Bundeswehr diskutiert. Was das konkret bedeutet lässt sich momentan sehr gut im Einsatz der spanischen Armee in den Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika begutachten.) Und so begründet das deutsche Außenministerium den geplanten Militäreinsatz im Sudan auch mit vitalen deutschen Interessen und überlässt das idealistische Neusprech der liberalen Presse. Nicht umsonst sollen die deutschen \"Militärbeobachter\" im ölreichen Süden des Sudans stationiert werden, in dem auch zufällig gerade deutsche Konzerne eine Eisenbahnlinie zum Transport des wertvollen Rohstoffes bauen.

Die Bundeswehr ist also trotz aller rot-grünen Auslegungen immer noch ein Instrument zur Durchsetzung deutscher Interessen und Weltmachtsambitionen und sollte deshalb auch wieder verstärkt in die Kritik derjenigen Kräfte geraten, die eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse anstreben. Dies wird umso notwendiger, da der internationale Verteilungskampf zwischen den kapitalistischen Blöcken sich weiter verschärfen wird. Besonders wichtig wird dabei die Kritik der Europäisierung des Militärs werden, da die europäischen Staaten zunehmend versuchen, in europäischer Kooperation ihre Interessen durchzusetzen. Erste Schritte dazu sind bereits getan, wie der momentane Aufbau der EU-Armee, die Vereinigung der europäischen Rüstungsindustrie (EADS), erste gemeinsame europäische Einsätze (Kongo, Bosnien) und die Aufrüstungsverpflichtung in der europäischen Verfassung zeigen. Daneben gilt es die Diskussionen um einen Bundeswehreinsatz im Inneren zu kritisieren, wie er im Rahmen des \"Krieges gegen den Terror\" von immer mehr PolitikerInnen gefordert wird. Auch hier sind die technischen Voraussetzungen für diese Einsätze bereits gegeben, da die Bundeswehr im Ausland zunehmend Polizeiaufgaben übernimmt und damit auch für einen eventuellen Ernstfall in Deutschland geübt ist. Ob dieser Ernstfall dann einen Terroranschlag oder die Niederschlagung eines Streiks bedeutet: die Bundeswehr ist vorbereitet.

Für die Wiederentwaffnung Deutschlands!

Den Aufbau der EU-Armee verhindern!

Für die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft!

Studiproteste 2005: business as usual? - Eine linksradikale Kritik am \"Freiburger Frühling\"

09.07.2005

Inhaltsverzeichnis\ 1 Praktische Kritik an den Protesten\ 1.1 Überzeugen und Aufklären?\ 1.2 Die Polizei - unser Freund und Helfer?\ 1.3 Rektoratsbesetzung & Co\ 1.4 Formen der Entscheidungsfindung\ 2 Politik und Macht\ 2.1 Politik: Macht und Gegenmacht\ 2.2 Der klassische ArbeiterInnenstreik: some kind of Erpressung\ 2.3 \"Schaden erzeugen\": Studentisches Äquivalent zum klassischen Streik\ 3 Bildung und Kapitalismus\ 3.1 Arbeitskraft und Humankapital: Studierende als Ressource der Nation\ 3.2 Studiengebühren\ 3.3 Die Institution Universität: Freiraum für Denken, Selbstentfaltung, Forschung und Lehre\ 3.4 Kapitalismus und Universität\ 3.5 \"Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst\"\ 3.6 Solidarität ist eine Waffe!\ 4 Für eine andere Uni! Für eine andere Gesellschaft!\ Anhang: Die Broschüren als Lese- und Druckversion.

Wieder einmal streikten in diesem Frühling in Freiburg Studierende, um für eine bessere Bildung zu protestieren. Was zunächst nach dem üblichen Ringelpietz mit Anfassen aussah - die Bildung symbolisch baden gehen lassen, Menschenketten bilden und \"die Öffentlichkeit für unser Anliegen sensibilisieren\" - hielt gleichwohl auch Überraschungen bereit. Bereits am zweiten Tag der Proteste besetzten mehrere hundert Studierende das Rektorat der Universität, und hielten diese Besetzung fast zwei Wochen lang aufrecht. Am Donnerstag, den 12. Mai, erlebte Freiburg dann eine der größten Demonstrationen der letzten Jahre: 5000 Studierende, SchülerInnen und sonstige Menschen zogen an der CDU-Geschäftsstelle vorbei durch die Freiburger Innenstadt, um sich schließlich vor dem besetzten Rektorat zur Abschlusskundgebung einzufinden. So viele Studierende kamen in Freiburg das letzte Mal beim \"Lucky Streik\" 1997 zusammen.

Auch wenn bei alledem noch immer Medienwirksamkeit, Symbolik und ein betont braver, dialogbereiter Umgangston im Vordergrund standen, fand bei Teilen der Protestierenden doch eine spürbare Politisierung und Radikalisierung statt. Deutlich tauchte etwa bei den RektoratsbesetzerInnen die Frage auf, welche Mittel eigentlich nötig sind, um politische Forderungen durchzusetzen; und ebenso fragten sich viele Studierende, für welche politischen Inhalte der Streik überhaupt steht oder stehen sollte.

In unserem Beitrag sollen diese Fragen aufgegriffen und weitergetrieben werden. Trotz der Freude über die spürbare Politisierung haben wir jedoch auch Kritik vorzubringen - Kritik an einzelnen Aktionsformen, Inhalten, vor allem aber am Selbstverständnis der Proteste. Naturgemäß wird das zu Kritisierende hier im Vordergrund stehen. Um es aber von Anfang an klarzustellen:\ wir wollen den Streik der Studierenden keineswegs vernichtend kritisieren, sondern im Gegenteil Perspektiven aufzeigen, in deren Richtung unserer Meinung nach einmal weitergedacht werden könnte.

[1 Praktische Kritik an den Protesten]{#1}\ [1.1 Überzeugen und Aufklären?]{#1.1}\ Was sich während der Protesttage immer wieder bemerkbar machte, war ein Verständnis von Protesten als \"Überzeugungsarbeit\", \"Aufklärung\" usw. - am deutlichsten zeigte sich dies bei der müden Diskussionsveranstaltung mit Wissenschaftsminister Peter Frankenberg. Zu kritisieren ist an diesem Politikkonzept vor allem die Vorstellung, dass es 1.) in der Politik um Argumente gehen würde, und 2.) dass Frankenberg unsere Argumente noch nicht kennen würde und also nur noch richtig überzeugt werden müsste.

Mit diesem Verständnis von Politik als Diskussionsveranstaltung hängt auch die immer wieder wiederholte Idee zusammen, man wolle \"endlich\" und unbedingt \"ernst\" genommen werden - vom Rektor der Universität Freiburg, von seinem Prorektor oder auch einfach überhaupt. Und damit man ernst genommen wird, darf man natürlich sein Gegenüber nicht vor den Kopf stoßen.

Was wir an diesem Konzept kritisieren, ist nicht nur die falsche Einschätzung, wann und warum Protestierende ernst genommen werden - nämlich nicht dann, wenn sie besonders brav sind, sondern dann, wenn der soziale Frieden in Gefahr ist. Worum es uns ebenfalls nicht primär geht, ist die Tatsache, dass der Adressat dieses Ernst-Genommen-Werden-Wollens denkbar falsch gewählt ist - denn nicht der Rektor, sondern die Landesregierung hat über Studiengebühren zu entscheiden. Auch nicht weiter empören muss die implizite Ansicht, ein anderer Rektor würde mit den Studierenden zusammen Studiengebühren verhindern - ganz so, als wären es nur die falschen Meinungen einiger Leute, aufgrund derer Studiengebühren eingeführt werden. Auch dass man dazu aufruft, die CDU \"abzuwählen\", wie auf der Großdemo am 12. Mai skandiert wurde, und dass also allen Ernstes geglaubt wird, eine SPD, die Hartz-IV-Gesetze einführt und Otto Schily als Innenminister beschäftigt, würde nach der nächsten Wahl eine grundlegend andere Bildungspolitik machen - auch dieses völlig unrealistische Vertrauen in die Politik soll hier nur andeutungsweise kritisiert werden.

Was noch schwerer wiegt, ist die peinliche Unterwerfungsgeste, die in diesem Ernst-Genommen-Werden-Wollen mitschwingt: dort oben die Könige, die entscheiden; hier unten die Untertanen, die sich nicht im Ton vergreifen dürfen, sondern betteln. Dieses Selbstverständnis der Proteste ist es, dass wir primär kritisieren wollen: Protest nicht als Anfang von Befreiung und eigener emanzipierter Tätigkeit, sondern als Appell an die Obrigkeit, besser für uns zu sorgen. Politik selbst soll weiterhin von anderen gemacht werden - das eigentliche Machtverhältnis bleibt unangetastet.

Dieses Selbstverständnis war keineswegs nur, aber vor allem beim u-asta, der \"Führungsschicht\" der Proteste, sehr verbreitet. So kam es denn auch, dass der u-asta, der zu den Protesttagen aufgerufen hat, schon am ersten Tag des Streiks von der Dynamik der Proteste geradezu überrollt wurde. Die fittesten Leute, die besten Flugblätter, aller inhaltliche Input kam plötzlich nicht mehr vom u-asta, sondern aus dem besetzten Rektorat. Einem u-asta-Vorsitzenden fiel auf dem BesetzerInnen-Plenum denn auch nichts Besseres ein als: \"Ich find die Besetzung ja gut - aber wann hört Ihr eigentlich wieder auf?\" Derartige Reaktionen sind nur erklärbar vor dem Hintergrund eines allzu bürgerlichen Politikverständnisses, dem es nicht darum geht Druck aufzubauen, sondern darum, mit der baden-württembergischen CDU in Dialog und Kooperation treten zu dürfen.

[1.2 Die Polizei - unser Freund und Helfer?]{#1.2}\ Wer derart PolitikerInnen und Studierende nicht als Gegner, sondern als Verbündete ansieht, die gemeinsam das Beste für die Nation wollen, wird naturgemäß auch nicht auf die Idee kommen, dass die Polizei, als verlängerter Arm der Politik, auf einem BesetzerInnen-Plenum nichts verloren hat. Der Wunsch, es sich mit ja niemandem zu verscherzen und möglichst niemandem weh zu tun, treibt im Endeffekt gar solche Blüten, dass erst noch lange diskutiert werden muss, ob man bewaffnete Burschenschaftler - also Leute, die mit Neonazis zusammenarbeiten und zum Teil selbst solche sind - bei sich mitmachen lässt.

Überhaupt ist es verwunderlich, dass wie selbstverständlich mit der Polizei zusammengearbeitet wird - dass etwa während illegalen Besetzungen Plena vor den Augen von PolizeibeamtInnen abgehalten werden, damit diese um so genauer herausfinden können, wer bei der Besetzung welche Rolle spielt, wer nur mal eben so dabei ist, und wer als \"RädelsführerIn\" gespeichert wird. Eine der Haupttätigkeiten der Polizei ist bekanntlich die Verfolgung von Gesetzesbrüchen - und im Kontext politischer, und erst recht illegaler Aktionen heißt das: Verfolgung von politischen AktivistInnen. Die Polizei dient dazu, Menschen zu kriminalisieren - dabei sollte man ihr nicht auch noch helfen.

[1.3 Rektoratsbesetzung & Co]{#1.3}\ Freilich ist Kriminalisierung nicht immer vonnöten, damit die Polizei ihre tieferliegende gesellschaftliche Rolle - die Verhinderung von Verstößen gegen die herrschende Ordnung - erfolgreich ausüben kann. Im besetzten Rektorat spielte die Polizei diese Rolle gänzlich friedlich - und gerade deshalb durchaus im Sinne Peter Frankenbergs: Die Studierenden konnten sich im Foyer des Rektorats austoben und das Gefühl genießen, radikal zu sein; die Polizei aber hatte das Geschehen jederzeit unter Kontrolle, führte Dialoge mit den BesetzerInnen und war über alles informiert.

Die objektive Funktion der Polizei in dieser Situation war wie immer die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit genau das Gegenteil dessen, was die BesetzerInnen ihrem Ziel, politischen Druck zu erzeugen, näher gebracht hätte. Daran kann man die PolizistInnen wohl nicht immer hindern; ihnen aber noch Waffeln zu schenken dafür, dass sie so sympathisch Dienst für die CDU-Landesregierung machen, ist schlechterdings absurd und verkennt völlig die eigentliche Situation. Dass die Polizei das Rektorat nicht räumte, heißt im Übrigen nichts anderes, als dass sie es nicht räumen musste, bzw. dass eine Räumung taktisch unklug gewesen wäre - etwa weil durch staatliche Gewaltanwendung weitere Radikalisierung zu befürchten sein konnte; eben die aber gilt es zu vermeiden.

Weniger dialogbereit war die Polizei, als nach der Großdemo am 12. Mai ca. 200 Studierende die Kronenbrücke, einen Verkehrsknotenpunkt in Freiburg, an dem sich verschiedene Autobahnzubringer kreuzen, blockierten. Schon nach 20 Minuten wurde die Brücke von ziemlich vielen PolizistInnen geräumt. Warum plötzlich dieser Umschwung in der Polizeistrategie? Zum einen, weil an dieser Aktion nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Demonstration beteiligt war und die Lage also vergleichsweise gut kontrollierbar. Zum andern aber wohl auch deshalb, weil aus irgendeinem Grund diese Straßenblockade weniger akzeptabel war als die Rektoratsbesetzung. Die Blockade der Autobahnzubringer erzeugte schließlich einen längeren Stau in mehrere Richtungen - LKW stauten sich, Geschäfte wurden zu spät beliefert, wichtige Geschäfts- und sonstige Termine mussten warten und drohten zu platzen. What a catastrophe! Wenn eine Stunde Blockade der Kronenbrücke schon nicht mehr akzeptabel ist und polizeilich beendet werden muss, dann scheint diese Aktionsform wohl vergleichsweise effektiv zu sein...\ Im Grunde kann man sämtliche Aktionen der Streiktage danach beurteilen, ob sie auf ähnliche oder andere Weise politischen Druck erzeugt haben. Und politischen Druck erzeugen heißt immer: in irgendeiner Form der Politik handfesten Schaden bereiten. Die unter diesem Aspekt effektivste Aktionsform war demnach also - so seltsam das klingt - nicht die Rektoratsbesetzung, sondern der Proteststau auf der Kronenbrücke. Das Rektorat war wiederum die zweifellos öffentlichkeitswirksamste Aktion und hat mittlerweile bereits in mindestens sechs Städten NachahmerInnen gefunden - während man sich in Freiburg schon wieder in u-asta-Arbeitskreise zurückgezogen hat. In diesem symbolischen Sinne hat selbstverständlich auch die Rektoratsbesetzung Schaden erzeugt und war effektiv - denn ist die Hemmschwelle bei den Studierenden erst einmal überschritten, besteht ab sofort permanent die Gefahr, dass so etwas - oder Schlimmeres - wieder passieren könnte. Die Aussicht, dass derartige Störungen der öffentlichen Ordnung Überhand nehmen könnten, ist für PolitikerInnen durchaus unangenehm - und eben darauf kommt es an. Unterschriften sammeln oder auf die Straße malen, die Bildung baden gehen lassen, öffentliche Vorlesungen halten, überhaupt jene Aktionen, mit denen versucht wird, \"auf sich aufmerksam zu machen\" oder \"die Öffentlichkeit\" zu \"sensibilisieren\", dürften Peter Frankenberg dagegen genauso wenig beeindruckt haben wie das ominöse \"Gehirne basteln\", das auf einem Protest-Flyer als Aktionsform angekündigt wurde.

[1.4 Formen der Entscheidungsfindung]{#1.4}\ Die Anwesenheit der Polizei im Rektorat führte im Endeffekt auch dazu, dass einige Protestierende an den Plena gar nicht teilnehmen konnten beziehungsweise, um sich selbst vor der Polizei zu schützen, nicht teilnehmen wollten. Im Grunde wurde dieser Teil der Protestierenden unterdrückt - von einer Mehrheit, die sich per Mehrheitsprinzip auf Kosten einer Minderheit durchgesetzt hat, indem sie das Plenum eben doch vor den Augen der Polizei abgehalten hat. Nicht einmal die Diskussion über den Umgang mit der Polizei konnte geschützt geführt werden - die Mehrheit weigerte sich schon für diesen Punkt, ihr Plenum nach draußen zu verlegen.

Dieses Mehrheitsprinzip ist schon an sich problematisch, denn es impliziert fast immer auch, dass Minderheiten unterdrückt werden. Eine andere Form der Entscheidungsfindung ist beispielsweise das Konsensprinzip, das in linken Strukturen seit Jahren erfolgreich praktiziert wird. Konsensprinzip bedeutet, dass nur Entscheidungen getroffen werden, mit denen alle einverstanden sind, und dass Minderheiten, auch Einzelpersonen, Vetorecht haben. Gegen dieses Prinzip lassen sich allerlei absurde theoretische Situationen konstruieren, die zeigen, dass es eigentlich nicht funktionieren dürfte. In der Praxis aber, unter halbwegs vernünftigen Menschen, funktioniert es in linken Zusammenhängen seit Jahren außerordentlich gut.

Das Vetorecht hätte im Rektorat dazu geführt, dass eine Minderheit darauf bestanden hätte, ein Plenum unter Ausschluss der Polizei abzuhalten. Dazu ist es leider erst nach einigen Tagen gekommen, und auch das nur auf massiven Druck einzelner Personen - das bürgerliche Verständnis parlamentarischer Demokratie wurde zunächst unhinterfragt übernommen und als selbstverständlich vorausgesetzt. Wie gesagt wurden hierdurch alle Personen, die sich vor Polizeiobservation schützen wollten, de facto von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen.

So viel zunächst an einzelnen Punkten, die uns während der letzten Wochen aufgefallen sind. Einige der genannten Kritikpunkte verstehen sich wahrscheinlich von selbst - andere dagegen werden vielleicht erst klar nach einem grundsätzlichen Blick auf die Funktionsweise von Politik und sozialen Protesten.\ [2 Politik und Macht]{#2}\ [2.1 Politik: Macht und Gegenmacht]{#2.1}\ Wir denken, dass es ein bürgerlicher Mythos ist zu behaupten, in der bürgerlichen Gesellschaft ginge es um Demokratie, Konsens und den Willen der Bevölkerung. Tatsächlich geht es um Macht. Der Code, das Funktionsprinzip, die Logik des Systems Politik heißt Macht - \"Macht oder Ohnmacht\". Die Logik der Wirtschaft heißt \"Gewinn oder Verlust\", die Logik der Wissenschaft \"wahr oder falsch\", die Logik der menschlichen Psyche \"Bedürfnisbefriedigung oder Verzicht\", und die Logik der Politik heißt eben \"Macht oder Ohnmacht\". Macht bedeutet: \"machen können\" . Macht heißt für Peter Frankenberg, dass er sein Studiengebührenkonzept verwirklichen kann, weil er einen Verwaltungsapparat hat, der seine Beschlüsse in bürokratische Konzepte umsetzt, und weil er einen Polizeiapparat hat, der seine Interessen vertritt. Das einzige, was man dieser Macht entgegensetzen kann, ist Gegenmacht. Wenn Macht so viel heißt wie \"machen können\", dann heißt Gegenmacht so viel wie: \"nicht machen lassen.\"

[2.2 Der klassische ArbeiterInnenstreik: some kind of Erpressung]{#2.2}

Die klassische Waffe, um Macht bzw. Gegenmacht auszuüben, ohne selbst zu regieren, sind Streiks. Mit nur drei Tagen Generalstreik wurde 1923 in der Weimarer Republik der rechte Kapp-Putsch abgewehrt, und mithilfe von Streiks setzen die Gewerkschaften auch heute noch, wenn sie nur wollen, ihre Lohnforderungen durch.

Die Waffe der Streikenden ist ökonomischer Schaden: Ein Tag Streik bedeutet Verluste für die jeweiligen Unternehmen - und vier Wochen Generalstreik wie in Frankreich 1968 legen eine Gesellschaft fast vollständig lahm. Der Streik ist also deshalb so mächtig, weil er die Wirtschaft dort angreift, wo sie am empfindlichsten ist: Beim Profit. Im Grunde ist die Rechnung einfach: Sobald der Schaden durch den Streik größer zu werden droht als der (materielle und/oder immaterielle) Schaden, der durch die Forderungen der Streikenden entstehen würde, lohnt es sich, den Forderungen nachzugeben.

Leider aber können Studierende in diesem Sinne nicht streiken. Wenn Studierende streiken, fügen sie niemandem Schaden zu außer sich selbst. Wenn die Universität ein ganzes Jahr außer Betrieb gesetzt wird, ist das (auch wenn es durchaus einigen Druck erzeugt) noch immer nicht halb so effektiv wie eine einzige Woche Arbeitsausfall bei Daimler-Chrysler. Uni-Streiks sind immer, per definitionem, symbolische Streiks. Auch die Besetzung des Rektorats war letztlich eine symbolische Besetzung - eigentlich mehr eine Belagerung, denn der Betrieb im Rektorat ging ja vollständig weiter; es wurde also kaum materieller Schaden erzeugt, von den Überstunden der MitarbeiterInnen und PolizistInnen abgesehen.

[2.3 \"Schaden erzeugen\": Studentisches Äquivalent zum klassischen Streik]{#2.3}\ Weil sie nicht streiken können, müssen Studierende einen Ersatz für die Funktionsweise des klassischen Streiks finden - indem sie anderweitig Schaden erzeugen. Aber wie? Die kapitalistische Gesellschaft funktioniert, solange die Wirtschaft Gewinne macht, solange das parlamentarische und bürokratische System reibungslos abläuft und solange die öffentliche Ordnung so weit stabil ist, als keine zentralen Funktionen der Gesellschaft, zum Beispiel eben Unternehmensgewinne, beeinträchtigt werden. Letztlich wird die Politik dafür verantwortlich gemacht, wenn eine Funktion der Gesellschaft nicht mehr funktioniert - sogar für das Sinken der Geburtenrate ist die Regierung indirekt verantwortlich. Deshalb sind auch die anderen Bereiche der Gesellschaft Punkte, an denen die politischen EntscheidungsträgerInnen angreifbar sind, solange handfester Schaden für die Politik erzeugt wird.

Sollten Protestierende tatsächlich einmal ernsthaft den sozialen Frieden bedrohen und sich nicht auf faule Kompromisse (wie z.B. den \"Marsch durch die Institutionen\") einlassen, dann wird man sich wundern - und hat sich in der Geschichte auch immer wieder gewundert -, zu welchen Zugeständnissen Regierung und Unternehmen plötzlich bereit sind, um das Heiligtum der kapitalistischen Gesellschaft - das Privateigentum - vor dem Untergang zu bewahren.

[3 Bildung und Kapitalismus]{#3}\ Soviel zur Kritik an Aktionsformen und dem Verständnis politischer Prozesse. Aber unser Hauptanliegen ist nicht so sehr die formale Kritik an Protestformen, sondern auch und vor allem die inhaltliche Kritik am Selbstverständnis der Studierenden und an ihren Forderungen - die Kritik an der Rolle, die Studierende in dieser Gesellschaft spielen und die sie, auch wenn sie protestieren, weiterhin zu spielen bereit sind.

Um die Rolle der Studierenden in der Gesellschaft zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die gegenwärtige bildungspolitische Situation. Diese stellt sich an der Oberfläche zunächst folgendermaßen dar: Bildung wird hauptsächlich als Ausbildung verstanden und dient zur Heranzüchtung hochqualifizierter Arbeitskräfte; wirtschaftlich verwertbare Fächer werden gefördert, nicht verwertbare Fächer marginalisiert; Universitäten werden in Unternehmen mit \"Aufsichtsräten\" und \"Vorstandsvorsitzenden\" umstrukturiert; Studiengebühren sollen demnächst eingeführt werden beziehungsweise sind für länger Studierende bereits eingeführt; es herrscht der Zwang, schnell und effizient zu studieren.

'Studieren als Investition in das eigene Humankapital', so ließe sich die aktuelle bildungspolitische Situation zusammenfassen. Ungeklärt ist noch, was diese Entwicklung genau zu bedeuten hat, was sie antreibt und ob es Alternativen zu ihr gibt; und ebenfalls unklar ist, mit welchem Konzept - ob eher mit einer wirtschaftspolitischen, sozialpolitischen, moralischen oder eher einer existenziell-materialistischen Logik - diese Entwicklung betrachtet gehört.

Auf den ersten Blick kann man vor allem feststellen, wie allzu Viele, die gegen Studiengebühren demonstriert haben, die Logik der GebührenbefürworterInnen bereits übernommen und verinnerlicht haben. Diese Verinnerlichung wird etwa deutlich, wenn immer wieder gefordert wird, dass das Geld aus den Studiengebühren wenigstens den Universitäten zugute kommen soll, anstatt in Haushaltslöchern zu versickern. Aber abgesehen davon, dass es nach der Einführung von Studiengebühren keinen Unterschied mehr macht, ob der Staat seinen Bildungsetat aus Gebühren oder aus Steuereinnahmen finanziert - denn erhöhen wird er ihn ganz sicher nicht -, abgesehen davon ist sich solche Argumentation im Prinzip mit der CDU einig darin, dass Studierende für ihr Studium selbst zahlen sollen, und ebenso einig darin, dass Bildung eine Ware ist, die man kaufen kann. Die einzige Kritik bezieht sich auf das schlechte Preis-Leistungs-Verhältnis bei diesem Geschäft.

Ein anderes Beispiel ist die ebenfalls verbreitete Argumentation, dass Studierende die Zukunft der Gesellschaft seien und deshalb besser behandelt werden müssten als andere Bevölkerungsgruppen. Dieser Gedankengang führte auf Vollversammlungen vor einem Jahr unter anderem dazu, dass sich einige RednerInnen vor allem darum bemühten, sich von weniger angesehenen Bevölkerungsschichten wie BummelstudentInnen, RentnerInnen und SozialhilfeempfängerInnen und abzugrenzen - mit dem Hinweis, dass Studierende im Gegensatz zu diesen Gruppen nicht faulenzen würden und auch \"nicht der Abschaum der Gesellschaft\" seien. Die Logik, mit der hier argumentiert wird, ist eine durch und durch elitäre Logik: dass wir eine Elite brauchen, dass wir diese Elite sein wollen, und dass man diese Elite gefälligst gut behandeln soll. Derartige Argumentationen werfen die Frage auf, wie sich Studierende selbst in dieser Gesellschaft platzieren beziehungsweise platziert sehen wollen, und welche Vorstellung von Gesellschaft hier zum Vorschein kommt.

[3.1 Arbeitskraft und Humankapital: Studierende als Ressource der Nation]{#3.1}\ Studierende, so heißt es, sind die Zukunft der Nation - ihre Ressource, Produktivkraft, der Quell ihres Reichtums. Stimmt das? Wenn Studierende mit dem Studium fertig sind, gibt es im Grunde drei Möglichkeiten: sie verrichten Lohnarbeit, machen sich selbständig oder bleiben arbeitslos.\ Die meisten Studierenden treten nach dem Studium wahrscheinlich in Lohnarbeit ein und arbeiten in Unternehmen oder im öffentlichen Dienst. Für diese lohnarbeitende Mehrheit heißt das: sie verkaufen ihre Arbeitskraft an einen sogenannten \"Arbeitgeber\", und weil diese Arbeitskraft hochqualifiziert ist, erhalten sie dafür relativ hohe Löhne. Im Prinzip aber tun sie nichts anderes als jeder andere Angestellte und jede Arbeiterin auch: sie verkaufen ihre Arbeitskraft, und jemand anderes macht mit dieser Arbeitskraft Gewinn. Insofern sind sie in der Tat eine Ressource, die zum Reichtum der Gesamtgesellschaft beiträgt.

Der einzige Irrtum - und dies gilt ebenso für die arbeitslosen wie für die selbständigen AbsolventInnen - besteht in der Annahme, dass die Gesellschaft diese Ressource besonders gut behandeln müsste. Genauso wenig wie ArbeiterInnen, nur weil sie zur Profitmaximierung ihres Arbeitgebers beziehungsweise ihrer Arbeitgeberin beitragen, besonders hohe Löhne erhalten oder sonstige Privilegien, genauso wenig werden Studierende besonders bevorzugt behandelt. Sondern gerade umgekehrt: weil Studierende, wie jede andere Bevölkerungsgruppe, nichts anderes sind als Futter für kapitalistische Verwertung, werden sie entsprechend behandelt. Das heißt konkret: sie haben zu funktionieren, sie haben zur Verfügung zu stehen, und sie haben billig zu sein. Das bedeutet freilich nicht, dass Studierende nicht immer noch und auch weiterhin Privilegien gegenüber anderen Bevölkerungsschichten genießen. Aber innerhalb und trotz dieser Privilegien macht das Verwertungs-, Leistungs- und Effizienzprinzip auch bei Studierenden nicht Halt.

[3.2 Studiengebühren]{#3.2}\ Damit die Produktivkraft StudentIn möglichst effektiv eingesetzt wird, soll sie also möglichst wenig kosten. Da wiederum der Spitzensteuersatz aus bekannten Gründen nicht erhöht, sondern gesenkt wird, und unter anderem deshalb die staatlichen Kassen ziemlich leer sind, ist es mehr als naheliegend, dass Studierende für ihre Ausbildung bald auch zahlen müssen. Für den Staat stellt sich die Lage tatsächlich so dar, dass Studierende lange Zeit unnötige Privilegien genossen haben, die jetzt endlich abgeschafft gehören. Studiengebühren sind also keineswegs ein unbegreiflicher Angriff von einzelnen bösen Menschen rechtsaußen, sondern ein logischer und aus Sicht des Systems völlig legitimer Schritt.

Umso besser passt es da natürlich, dass durch Studiengebühren so manche Haushaltslöcher gestopft werden können und der staatliche Bildungsetat gesenkt werden kann. Und dann haben Studiengebühren zudem äußerst erwünschte gesellschaftspolitische Steuerungseffekte: einerseits die sogenannte \"soziale Selektion\", und andererseits einen ziemlich wirksamen Selbstdisziplinierungseffekt bei den betroffenen Studierenden.

Soziale Selektion\ Zur sozialen Selektion muss nicht viel gesagt werden - dieser Aspekt wurde in den vergangenen Wochen oft genug und selbstverständlich zu recht betont. Nur zwei Dinge vielleicht: 1.) dass soziale Selektion nicht erst im Studium anfängt, sondern von Geburt an und erst recht in der Schule; und 2.) dass die Landesregierung mit großer Wahrscheinlichkeit weiß, was Studiengebühren mit sozialer Selektion zu tun haben, und dass die soziale Selektion folglich kein unerwünschter Nebeneffekt ist, sondern vielleicht gar erwünscht. Denn wenn Studieren schon Geld kostet, dann sind zahlungsunfähige BAföG-EmpfängerInnen natürlich noch weniger willkommen als bisher schon - eben weil sie kein Geld in die Kassen bringen.

Selbstdisziplinierung

Der zweite Effekt von Studiengebühren ist die Selbstdisziplinierung der Studierenden. Denn: wer Studiengebühren zahlt, wird ganz sicher effizient und ziemlich schnell studieren und gar nicht anders können, als sein Studium als Investition zu betrachten.

Diese Disziplinierung hat bereits jetzt, also vor der Einführung allgemeiner Studiengebühren, Erfolg. Badische Zeitung vom 01.04.2005: \"In den vergangenen 10 Jahren hat die durchschnittliche Studiendauer kontinuierlich abgenommen. 1991 wurde im Schnitt noch 11,2 Semester studiert, 2003 waren es nur noch 9,5 Semester.\" Peter Frankenberg meint dazu auch ganz offen: \"Das ist ein Beleg für den Erfolg der vielfältigen Maßnahmen, die wir gezielt zur Verkürzung der Studienzeiten ergriffen haben.\" Und die Einführung der Bachelor-Studiengänge wird diesen Trend natürlich weiter verstärken. \"Für Frankenberg ist aber das Durchschnittsalter der Universitätsabsolventen mit 27,8 Jahren immer noch zu hoch.\"

Gibt es einen Kapitalismus ohne Studiengebühren?

Trotzdem wäre es wohl zu einseitig zu sagen, dass Studiengebühren im Kapitalismus unausweichlich sind. Es sprechen schließlich auch innerhalb des Systems Gründe gegen Studiengebühren:

  • Etwa, dass soziale Selektion nicht unbedingt im Interesse der Unternehmen liegt, weil durch sie nicht mehr die talentiertesten, sondern nur noch die wohlhabenden Menschen studieren können, was sicher nicht zur Innovationssteigerung führen wird.
  • Gegen Studiengebühren spricht auch, dass eine Uni als bloße Verwertungsfabrik gar nicht unbedingt im Interesse der Unternehmen sein muss. Im Gegenteil werden gerade in Spitzenberufen Individuen gesucht, die frei und unkonventionell denken können, und sich an der Uni also geistig austoben konnten, anstatt nur für ihren späteren Beruf zu büffeln.
  • Gegen Studiengebühren und Bildungsabbau spricht außerdem, dass gute Universitäten durchaus auch ein Standortfaktor sind;
  • und schließlich ist soziale Gerechtigkeit, an der Uni wie anderswo, ein Faktor, der die gesamte Gesellschaft stabilisiert - Bildungs- und Sozialabbau werden die Lebensdauer des Kapitalismus wohl eher vermindern als erhöhen, da sie Unzufriedenheit mit dem bestehenden System erzeugen beziehungsweise verstärken.

Aber es sprechen eben auch Gründe für Studiengebühren:

  • Studiengebühren entsprechen der Verwertungslogik und sind zumindest kurzfristig im Interesse der Unternehmen, die möglichst schnell an gut getrimmte Arbeitskräfte gelangen;
  • für Studiengebühren spricht außerdem, dass sie in anderen Staaten längst eingeführt sind, ohne dass durch sie der soziale Frieden soweit gestört wäre, dass Revolutionen zu befürchten wären;
  • und ebenso spricht für Studiengebühren, dass sie ja nicht isoliert eingeführt werden, sondern in einem großen Kontext von Sozialabbau und Privatisierung stehen; es gibt wie gesagt keinen Grund, warum diese Entwicklung gerade vor der Universität halt machen sollte.
  • Und das Hauptargument für Studiengebühren ist natürlich, dass sie kurzfristig Geld in die Kassen bringen und Haushaltslöcher stopfen - aus dieser Motivation macht die Regierung bekanntlich kein Geheimnis.

Es ist schwierig zu entscheiden, ob Studiengebühren dem Kapitalismus letztendlich nützen, oder langfristig nicht doch eher schaden. Jedenfalls sind die Gründe für Studiengebühren wohl die schwerwiegenderen, sonst würden sie nicht eingeführt werden. Was gesagt werden kann ist, dass die für das System negativen Aspekte von Studiengebühren eher indirekt und langfristig, die positiven Aspekte eher kurzfristig wirken. Und was zum Kapitalismus in jedem Fall dazugehört, ist die Dominanz einer wirtschaftlichen Logik, die eher auf kurzfristige finanzielle Gewinne abzielt als auf langfristige Gesellschaftspolitik. Gerade in Krisenzeiten steigt der Druck, dieser wirtschaftlichen Logik Zugeständnisse zu machen.

Arbeitskräfte heranzubilden, nicht etwa freie Forschung zu ermöglichen oder gar Raum bereitzustellen, um einen kritischen und distanzierten Blick auf sich selbst und die eigene Gesellschaft zu ermöglichen - das ist in dieser wirtschaftlichen Logik also die primäre Aufgabe der Universität. Vom kurzfristigen Standpunkt der Wirtschaftslogik aus gesehen sind Studiengebühren genauso logisch und sinnvoll wie niedrige Löhne und Arbeitszeitverlängerungen bei ArbeiterInnen. Studierende sind Produktivkräfte und werden entsprechend ausgebeutet - eben auf dieser Ausbeutung von Arbeitskraft beruht die ganze bestehende Gesellschaft. Bildung ist nicht \"frei\" - und ist es wohlgemerkt auch nie gewesen. Dass Bildung mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen verknüpft ist, war im Grunde immer schon so - aber es war immerhin nicht zu jeder Zeit so ausgeprägt wie heute.

[3.3 Die Institution Universität: Freiraum für Denken, Selbstentfaltung, Forschung und Lehre]{#3.3}\ Universitäten waren zwar einerseits immer schon Teil des großen Ganzen, sie haben im Kaiserreich kaisertreue MilitaristInnen und ImperialistInnen, im Dritten Reich AntisemitInnen und brave ParteisoldatInnen hervorgebracht, im Nachkriegsdeutschland liberale Spießer wie Sir Ralf Dahrendorf oder Friedrich Hayek auf Lehrstühle gehievt und heute züchten sie egoistisches Verwertungsfutter heran - das ist sogar vergleichsweise harmlos. Trotzdem waren Universitäten immer auch relativ autonome Räume, in denen halbwegs frei geforscht werden konnte und in denen wenigstens zeitweise auch Menschen wie Theodor Adorno oder Ernst Bloch lehren durften.

Und nicht nur für den kritischen Geist der Studierenden waren Universitäten lange Zeit Freiräume, in denen es sich gut leben ließ - auch für andere Bereiche der menschlichen Existenz bot die Universität Entfaltungsmöglichkeiten - eine billige Mensa, zahlreiche finanzielle Ermäßigungen und ein funktionierendes soziales Umfeld von Menschen mit ähnlichen Interessen. So waren bis zur Einführung der Langzeitstudiengebühren ScheinstudentInnen und SozialschmarotzerInnen tatsächlich ein Massenphänomen - im Übrigen ohne, dass deshalb die Bundesrepublik Deutschland in die Krise gestürzt wäre. Studieren war lange Zeit wenigstens für manche gleichbedeutend mit der Möglichkeit, den Eintritt in den kapitalistischen Alltag entfremdeter Arbeit und Lohnschinderei hinauszuzögern und noch ein paar Jahre halbwegs selbstbestimmten Lebens genießen zu können.

[3.4 Kapitalismus und Universität]{#3.4}\ Warum werden diese kulturellen Errungenschaften spätestens seit Ende der 80er Jahre so konsequent Schritt für Schritt abgebaut? Die Kosten, die ScheinstudentInnen verursachen, sind im Grunde relativ gering, denn sie benutzen ja kaum die universitäre Infrastruktur. Aber trotzdem fallen sie als Nicht-Arbeitende aus dem ökonomischen Verwertungszusammenhang heraus, und werden durch ihre Arbeitsverweigerung zum schlechten Beispiel, das anstecken könnte. In einer Universität als verlängertem Arm der Wirtschaft haben solche Elemente folglich keinen Platz.\ Wie gesagt ist die Einebnung dieser Freiräume völlig plausibel, solange man sich in die Betriebslogik des Kapitalismus hineinversetzt; und erst recht, wenn man diesen Betrieb selbst akzeptiert. Denn auf der Ebene der unmittelbaren Systemlogik gilt eben der Maßstab der möglichst kurzfristigen Gewinnmaximierung. Alles andere ist irrelevant: gearbeitet wird - außer im öffentlichen Dienst - stets unter der Maßgabe größtmöglicher Rentabilität im Interesse eines jeweils ganz bestimmten Privateigentums. Und selbst im öffentlichen Dienst wird keineswegs \"für alle\" gearbeitet, sondern für einen Staat, dessen Funktion es gerade ist, dieses Privateigentum zu schützen und die herrschende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten.

Akzeptiert man die Grundlage dieser Gesellschaft: das Privateigentum an Produktionsmitteln, dann wird man wohl einsehen - und die CDU tut dies ebenso wie SPD und Grüne - dass im Interesse der Kapitalverwertung Bedingungen hergestellt werden müssen, die diese Kapitalverwertung fördern. Dazu gehören - neben dem notfalls auch gewaltsamen Schutz des Eigentums - unter anderem niedrige Spitzensteuersätze, gezielte Standortpolitik sowie Universitäten, in denen Menschen herangebildet werden, die sich gut verwerten lassen. Aus diesem Grund greift die Kritik an Studiengebühren oft zu kurz, wenn sie nicht zu benennen vermag, welcher Mechanismus es eigentlich ist, der hinter der aktuellen Bildungspolitik steht. Oder, wie es schöner heißen könnte: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte von der Bildungspolitik schweigen.

[3.5 \"Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst\"]{#3.5}\ Das eigentlich Verwunderliche an der Argumentation der StudiengebührengegnerInnen ist, dass sie so selten ehrlich sagen, worum es wirklich geht. Man argumentiert für soziale Gerechtigkeit - aber jeder andere Bereich der Gesellschaft, in dem keine soziale Gerechtigkeit herrscht, wird nicht angegriffen. In einer Gesellschaft, in der ohnehin keine soziale Gerechtigkeit herrscht, ist das zumindest nicht sehr glaubwürdig. Oder es wird gegen \"Bildung als Ware\" argumentiert - in einer Gesellschaft, in der fast alles eine Ware ist. Was die protestierenden Studierenden aber eigentlich bewegt, ist nicht irgendein abstraktes Prinzip von sozialer Gerechtigkeit oder ein Humboldtsches Bildungsideal, sondern die schlichte Tatsache, dass sie selbst von diesem Prozess betroffen sind.

Der eigentliche Beweggrund der Proteste ist also egoistisch - aber eben dieser Egoismus ist keiner, für den man sich schämen müsste. Jeder Arbeitskampf um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, jeder Widerstand gegen Sozialabbau oder gegen den Abbau von Grund- und Freiheitsrechten, alle diese Kämpfe sind egoistische Kämpfe, und nur deshalb werden sie geführt. Auch die klassischen revolutionären Kämpfe waren keine abstrakten Einsätze für das \"Prinzip\" des Kommunismus oder ähnliches, sondern Kämpfe für ein besseres Leben, für welches die kommunistische Revolution nichts anderes sein sollte als Mittel zum Zweck.

Alle Theorie, alle Argumentation für soziale Gerechtigkeit und Freiheit der Bildung ist insofern eine Waffe im öffentlichen Kampf, die man durchaus benutzen kann - aber die eigentliche Logik, die hinter den Protesten steht, ist eine andere, nämlich ganz konkret existenzielle. Und wer weiß, welche Theoriewaffe schärfer schneidet: diejenige, die abstrakt ist, uneigennützig, und die die eigenen Interessen verleugnet, oder diejenige, die ihre eigenen Interessen gerade zum Ausgangspunkt macht für das Handeln konkreter Menschen mit eben diesen ganz konkreten, materiellen, existenziellen Interessen.\ Bei Karl Marx heißt es dazu in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MEW 1, S. 385): \"Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem [am Menschen] demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.\" Und weiter unten heißt es dann: \"Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.\"

Wenn insofern die Theorie (die also nicht von außen kommt, sondern vom Menschen selber) der theoretische Ausdruck der menschlichen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen ist, dann wird zweierlei klar: 1.) dass die Theorie erst noch verwirklicht werden muss, um ihren Zweck zu erfüllen, und dass sie erst durch den Kommunismus verwirklicht wird - als jener Gesellschaft, in der es heißt: \"jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen\". Und es wird 2.) klar, dass die Verwirklichung dieser Art von Theorie nicht irgendein Kampf um irgendetwas ist, sondern der Kampf um die eigene Existenz.

[3.6 Solidarität ist eine Waffe!]{#3.6}\ Dies ist also das eine: dass Protest nur dann entschlossen geführt werden wird, wenn die Protestierenden ein existenzielles Interesse haben. Ohne Egoismus geht es nicht, beziehungsweise bleibt die Kampfkraft der Protestierenden gering. Aber Egoismus ist wiederum nicht alles. Auch das Elend anderer betrifft mich, weil ich mitverantwortlich bin, wenn die Gesellschaft, in der ich lebe, Elend hervorbringt. Solidarität ist zunächst ein moralisches Gebot, und es macht wenig Sinn, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der die Menschen nicht mehr Feinde sind, sondern zusammenarbeiten, wenn man nicht heute schon beginnt, diese Zusammenarbeit auch zu praktizieren.

Aber Solidarität ist nicht nur ein moralisches Gebot - sonst könnte es auch heißen: \"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral\" - sondern Solidarität ist auch und vor allem eine Waffe. Wenn stets nur die unmittelbar Betroffenen auf die Straße gehen würden, fänden zwar einige Demonstrationen statt, doch keine einzige große. Den WagenbewohnerInnen in Freiburg aber würde es helfen, bequemten Studierende sich auf ihre \"Love-or-Hate-Parade\", so wie es umgekehrt den Studierenden half, dass ein Großteil der Freiburger Linken sich auf den Studierenden-Demos blicken ließ - trotz aller Differenzen und Probleme, die einige Linksradikale mit den Studierenden haben.

[4 Für eine andere Uni! Für eine andere Gesellschaft!]{#4}\ Wie gesagt sind Studierende im Kapitalismus genauso Humankapital wie alle anderen Menschen, und Bildung prinzipiell genauso eine Ware wie Berufsausbildungen, Volkshochschulkurse und Bücher. Selbst wenn Studiengebühren verhindert werden können, wird sich hieran nichts ändern, und auch dann noch wird Studieren nicht kostenlos sein. Nach der 17. Erhebung des Deutschen Studentenwerks müssen jetzt schon fast 70% aller Studierenden nebenher arbeiten, um ihr Studium finanzieren zu können.

Worum es uns jedoch geht, ist nicht nur die Frage, wieviel Bildung kostet, und noch nicht einmal nur, dass sie überhaupt etwas kostet - worum es uns auch und vor allem geht, ist die spezifische Funktion von Bildung in dieser Gesellschaft. Selbst wenn Studieren wirklich kostenlos wäre, züchtet die Universität schließlich Eliten heran. Schon in der Schule wird selektiert zwischen jenen, die später einmal reich werden und jenen, die später einmal arm werden. Es wird getrennt zwischen jenen, die als sogenannte KopfarbeiterInnen ihr Geld mit Denken verdienen und jenen, die diesen KopfarbeiterInnen die Toiletten putzen, da sie die Dinge, die an der Uni gelehrt werden, nicht lernen durften - weil sie auf der falschen Schule waren.

Die Universität ist also von jeher eine Elite-Universität, und eben das ist die Rolle, die sie im Kapitalismus spielt. Ginge es an der Universität wirklich um Bildung im Humboldtschen Sinne - um die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Erziehung zum reifen und mündigen, denkenden Menschen - dann stünde die Uni logischerweise allen Menschen offen und Freiheit und Mündigkeit würde nicht nur an SchülerInnen mit Abitur und reichem Elternhaus verteilt. Aber es geht eben doch nicht, auch heute nicht, um Freiheit und Mündigkeit, sondern um Aus-Bildung im Interesse kapitalistischer Verwertung. Und es ist keineswegs nur die Universität, sondern die ganze Gesellschaft, in der es um diese Verwertung geht. Wenn man also schon soziale Gerechtigkeit fordert und \"Bildung für alle\", dann muss man diese soziale Gerechtigkeit auch für alle fordern, und das bedeutet letztlich, dass es nicht nur um \"Bildung für alle\" geht, sondern um \"Alles für alle\".

Wenn wir in einer Gesellschaft leben, deren Betriebslogik genau das Gegenteil der Bedürfnisse bedeutet all derer, die in dieser Gesellschaft leben, dann muss sich eines von beiden ändern: die Gesellschaft oder die Bedürfnisse der Menschen. Was wir im Zeitalter von Privatisierung, Sozialabbau und Bildungsabbau erleben, im Zeitalter von Arbeitszeitverlängerung und Ein-Euro-Jobs für Arbeitslose, ist der einseitige Versuch, die Bedürfnisse der Menschen zu ändern und an die Vorgaben des Systems anzupassen. Wofür wir kämpfen sollten, ist das Gegenteil: die Anpassung der sozialen Verhältnisse an die Bedürfnisse der Menschen. Und eben das ist der Grund, warum wir immer wieder vom Kommunismus, von der Anarchie und von der Abschaffung des Kapitalismus reden: weil wir nicht denken, dass die bestehende Gesellschaft unsere Bedürfnisse dauerhaft erfüllen kann, und weil man die Übel dieser Gesellschaft nicht nur oberflächlich bekämpfen kann, sondern weil man radikal werden muss.

Und dies ist eben die Hauptkritik, die wir an den Studierendenprotesten haben und der Grund, warum wir in ihnen \"business as usual\" sehen: dass die elitäre und konforme Rolle, welche die Studierenden im Kapitalismus spielen, nicht hinterfragt und angegriffen, sondern unhinterfragt übernommen und sogar noch verteidigt wurde. Es geht eben nicht nur um die Falschheit von Studiengebühren, nicht nur um falsche Bildungspolitik, sondern um gesellschaftliche Verhältnisse, die selbst von Grund auf falsche sind.

Zumindest ein kleiner Schritt, diese Verhältnisse anzugreifen, wäre auch beim Streik schon möglich gewesen: \"Bildung für alle\" könnte als allererstes schließlich heißen, die Universitäten wirklich für alle zu öffnen. Wenn man Rektorate besetzen kann, kann man wohl auch die Uni selbst besetzen - und zwar eben nicht, um sie zu blockieren, sondern um sie zu verändern. Der Lehrbetrieb ließe sich umgestalten - einige ProfessorInnen würden sogar mitmachen - und die Universität könnte sich innerhalb kürzester Zeit in einen offenen und selbstverwalteten Betrieb verwandeln, in dem die Beteiligten selbst über ihr Leben und ihre Bildung entscheiden und nicht irgendein Staat im Interesse irgendeiner Wirtschaft. Dies wäre wirklich \"Bildung für alle\": sich die Uni im Interesse aller aneignen und so das bürgerliche Bildungssystem in ein revolutionäres verwandeln, das als Vorbild für noch ganz andere Bereiche der Gesellschaft dienen könnte.\ Derartige \"Bildung für alle\" ist aber freilich nichts, worum wir PolitikerInnen bitten könnten - im Gegenteil: wir müssen sie uns erkämpfen. Und eben diese Notwendigkeit eigenen Handelns sehen wir grundlegend mit dem Wesen politischer Emanzipation verbunden: denn Freiheit ist nichts, was man von jemandem fordern kann, sondern etwas, das man sich nimmt.

Für den Kommunismus! Für die Anarchie!

La Banda Vaga, Frühling 2005

[Anhang: Die Broschüren als Lese- und Druckversion]{#5}

Dieser Text ist der überarbeitete Vortragstext unserer Diskussionsveranstaltung zur gesellschaftliche Rolle der Studierenden im Kapitalismus und zur Analyse der Form der vergangenen Studiproteste, den wir als Broschüre veröffentlicht haben. Neben einem Vorwort dokumentieren wir darin ein Flugblatt von GewerbeschülerInnen zum Studistreik 1997 und unseren Text 30 Semester Minimum - Für Deutschland keinen Finger krumm!

Wir müssen den Staat an sich zerstören.

14.05.2005

Redebeitrag auf der Love OR Hate-Parade am 14. Mai 2005 in Freiburg.

Liebe Leute!

Ich begrüße euch auf der Love OR Hate-Parade im Namen von La Banda Vaga. Paradieren wir, auf dass die Sonn' schein' ohn' Unterlass...

Die Stadt Freiburg ist seit jeher bemüht um ein sauberes Image. Es werden Unsummen für die Gehwegreinigung ausgegeben, während an der Kultur gnadenlos gespart wird. Da passt es ins Bild, wenn GraffitikünstlerInnen wie Kriminelle behandelt werden, weil sie nicht die normierte Langeweile einer sauberen Fassade akzeptieren. Doch nur vordergründig geht es um eine Frage der Ästhetik. Tatsächlich wird den SprayerInnen die Missachtung einer der Grundsätze unserer Gesellschaft nicht verziehen: die Missachtung des Rechts auf Eigentum.

Auch im Namen der Ordnung geht die Stadt gegen unerwünschte Menschen vor. Ein sogenannter „Denkmalpunk" bekam letzten Monat einen Brief vom Amt für öffentliche Ordnung, in dem ihm ein Strafgeld angedroht wurde, falls er noch einmal „alkoholisiert in der Innenstadt angetroffen" würde. Er habe zudem durch die Lagerung von Rucksäcken, Bierflaschen und einer Wolldecke eine „öffentlich gewidmete Fläche über den Gemeingebrauch hinaus benutzt". Dieses Verhalten störe die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Tatsächlich jedoch stören die Punks mit ihrem unangepassten Verhalten lediglich das Bild einer sterilen Konsumwelt.

[]{.inline .inline-right}Wir erleben einen Angriff auf unsere Privatsphäre auf allen Ebenen. Es ist praktisch unmöglich, sich durch die Freiburger Innenstadt zu bewegen, ohne per Video überwacht zu werden. Zeitweise wurden sogar die Umkleidekabinen des städtischen Schwimmbads per Kamera kontrolliert. Immer effizientere Methoden werden angewandt, um eine möglichst lückenlose Überwachung der Menschen zu erreichen. Es ist deutlich die Abkehr vom Prinzip der Unschuldsvermutung zu erkennen. Prinzipiell ist jeder und jede verdächtig und stellt ein potenzielles Sicherheitsrisiko dar.

Diese repressiven Maßnahmen auf niedrigem Niveau stehen im Kontext einer immer stärkeren Einschränkung der Freiheitsrechte. Wir beobachten eine präventive Konterrevolution, ohne dass die reale Gefahr einer revolutionären Bewegung vorhanden wäre. Diese Entwicklung wird durch eine Eigendynamik des staatlichen Herrschaftssystems vorangetrieben. Dessen Logik beruht auf einer immer weiteren Perfektionierung und Effizienzsteigerung seiner Mittel, um die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten. Falls wir ihm nicht entgegentreten, führt dieser Prozess in letzter Konsequenz zu einem totalitären Überwachungsstaat.

Gerade wegen der inneren Logik des Systems können wir nicht darauf hoffen, dass diese Entwicklung irgendwann einfach aufhört. Wir dürfen nicht nur die Symptome der repressiven Herrschaft bekämpfen. Wir müssen den Staat an sich zerstören.

Für den Kommunismus! Für die Anarchie!

„\...bleibt auch die Diakonie legitimes Angriffsziel\..."

01.03.2005

Leserbrief an das evangelische Magazin „profile"

La Banda Vaga\ c/o Infoladen KTS\ Baslerstr. 103\ 79111 Freiburg\ info „AT" labandavaga.de\ www.labandavaga.de

profile-Redaktion\ Goethestraße 2\ 79100 Freiburg

Betreff: Leserbrief zum Artikel „Hartz IV - Vom Ein-Euro-Job zur Gemeinwohlarbeit - eine diakonische Bestandsaufnahme" von Albrecht Schwerer in Nummer 21, März bis Mai 2005. Mit der Bitte um Veröffentlichung.

Sehr geehrte profile Redaktion,

wir, die Mitglieder der Gruppe La Banda Vaga, haben in den vergangenen Tagen und Wochen Flugblätter gegen den Einsatz von sog. „Ein-Euro-JobberInnen" in verschiedenen Institutionen verteilt. U. a. waren davon auch Einrichtungen der Diakonie betroffen. Aus diesem Grunde waren wir sehr gespannt, als wir in Ihrer Zeitschrift einen Artikel des Geschäftsführers des Diakonischen Werkes Breisgau-Hochschwarzwald entdeckten, in dem dieser den Einsatz von „Ein-Euro-JobberInnen" in Einrichtungen der Diakonie zu legitimieren versuchte.\ Dies ist ihm allerdings gründlich misslungen. Denn mit einer schlichten Umbenennung der „Ein-Euro-Jobs" in „Gemeinwohlarbeit" ändert sich nichts an den verheerenden Inhalten dieser staatlichen Zwangsmassnahme. Mit diesem „Etikettenschwindel" soll lediglich das Ansehen der Profiteure, in diesem Fall der Diakonie, erhöht werden. Denn das eine größere Anzahl ALG 2 BezieherInnen durch eine sechsmonatige Zwangsarbeit wieder in den sog. ersten Arbeitsmarkt integriert werden könnte, dürfte bei real bis zu neun Millionen Arbeitslosen selbst der Geschäftsführer der Diakonie nicht ernsthaft glauben. Die „Ein-Euro-Jobs" haben stattdessen den Zweck, erstens die Arbeitslosenstatistik zu schönen, zweitens die Arbeitslosen zu disziplinieren (bei Ablehnung oder Renitenz drohen Leistungskürzungen) und drittens den Druck auf die noch regulär Beschäftigten zu erhöhen. Nicht ohne Grund fordert inzwischen auch die Industrie den Einsatz von „Ein-Euro-JobberInnen".\ Ein weiterer für die Regierung erfreulicher Nebeneffekt ist außerdem, dass viele Sozialverbände die anfangs die „Hartz 4 Reformen" kritisiert haben nun nachdem sie erkannt haben welchen Vorteil sie von den „Ein-Euro-Jobs" haben, ihre Kritik doch deutlich zurückgefahren haben. Selbst wenn die Diakonie, wie Herr Schwerer schreibt, sich an die Ausführungsbestimmungen des Gesetzes hält, was die meisten Einrichtungen nicht tun werden und „Ein-Euro-JobberInnen" nur zusätzlich zu den noch regulär Beschäftigten einsetzt und spezielle Qualifizierungsprogramme für die ALG 2 EmpfängerInnen anbietet, so legitimiert die Diakonie doch trotzdem das gesamte repressive Gesetzeswerk mitsamt den oben beschriebenen Auswirkungen auf die ALG 2 EmpfängerInnen und die noch regulär Beschäftigten. Aus diesem Grund bleibt auch die Diakonie legitimes Angriffsziel weiterer Protestaktionen gegen die „Arbeitsmarktreformen" der Regierung.

Bis bald,

La Banda Vaga

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Die profile-Redaktion hat in der Nummer 22, Juni bis August 2005, eine verstümmelte Version unseres Leserbriefes abgedruckt. „Kürzungen sind vorbehalten" bedeutet bei den ProtestantInnen scheinbar, dass Kritik an der Diakonie nicht abgedruckt wird.

Sehr geehrte profile Redaktion,

wir, die Mitglieder der Gruppe La Banda Vaga, haben in den vergangenen Tagen und Wochen Flugblätter gegen den Einsatz von sog. „Ein-Euro-JobberInnen" in verschiedenen Institutionen verteilt. U. a. waren davon auch Einrichtungen der Diakonie betroffen. Aus diesem Grunde waren wir sehr gespannt, als wir in Ihrer Zeitschrift einen Artikel des Geschäftsführers des Diakonischen Werkes Breisgau-Hochschwarzwald entdeckten, in dem dieser den Einsatz von „Ein-Euro-JobberInnen" in Einrichtungen der Diakonie zu legitimieren versuchte.\ Dies ist ihm allerdings gründlich misslungen. Denn mit einer schlichten Umbenennung der „Ein-Euro-Jobs" in „Gemeinwohlarbeit" ändert sich nichts an den verheerenden Inhalten dieser staatlichen Zwangsmassnahme. Mit diesem „Etikettenschwindel" soll lediglich das Ansehen der Profiteure, in diesem Fall der Diakonie, erhöht werden. Denn das eine größere Anzahl ALG 2 BezieherInnen durch eine sechsmonatige Zwangsarbeit wieder in den sog. ersten Arbeitsmarkt integriert werden könnte, dürfte bei real bis zu neun Millionen Arbeitslosen selbst der Geschäftsführer der Diakonie nicht ernsthaft glauben. Die „Ein-Euro-Jobs" haben stattdessen den Zweck, erstens die Arbeitslosenstatistik zu schönen, zweitens die Arbeitslosen zu disziplinieren (bei Ablehnung oder Renitenz drohen Leistungskürzungen) und drittens den Druck auf die noch regulär Beschäftigten zu erhöhen. Nicht ohne Grund fordert inzwischen auch die Industrie den Einsatz von „Ein-Euro-JobberInnen".\ Ein weiterer für die Regierung erfreulicher Nebeneffekt ist außerdem, dass viele Sozialverbände die anfangs die „Hartz 4 Reformen" kritisiert haben nun nachdem sie erkannt haben welchen Vorteil sie von den „Ein-Euro-Jobs" haben, ihre Kritik doch deutlich zurückgefahren haben. Selbst wenn die Diakonie, wie Herr Schwerer schreibt, sich an die Ausführungsbestimmungen des Gesetzes hält, was die meisten Einrichtungen nicht tun werden und „Ein-Euro-JobberInnen" nur zusätzlich zu den noch regulär Beschäftigten einsetzt und spezielle Qualifizierungsprogramme für die ALG 2 EmpfängerInnen anbietet, so legitimiert die Diakonie doch trotzdem das gesamte repressive Gesetzeswerk mitsamt den oben beschriebenen Auswirkungen auf die ALG 2 EmpfängerInnen und die noch regulär Beschäftigten. Aus diesem Grund bleibt auch die Diakonie legitimes Angriffsziel weiterer Protestaktionen gegen die „Arbeitsmarktreformen" der Regierung.

Bis bald,

La Banda Vaga

„Die Arbeiter haben kein Vaterland" (Karl Marx)

27.02.2005

Über Arbeitsfetischismus, Nationalismus und Emanzipation

Der Begriff mag altmodisch klingen, doch es existiert noch immer: das Proletariat. Es gibt sie noch, jene Klasse der Gesellschaft, die nichts besitzt außer ihrer Arbeitskraft, welche sie Tag für Tag verkaufen muss, um sich vom dabei erzielten Lohn am Leben erhalten zu können. Das Proletariat existiert in Deutschland genauso wie in allen anderen Staaten, in denen Lohnarbeit und Warenproduktion, sowie, daraus resultierend, die Teilung der Gesellschaft in Klassen existiert, das heißt: auf dem gesamten Globus. Aber mit dem entsprechenden Klassenbewusstsein ist es fast überall nicht weit her --- hierzulande am wenigsten. Trotz des immer offener geführten Klassenkampfs von oben, trotz Sozialabbau, Arbeitszwang und Massenentlassungen, trotz Arbeitszeiterhöhungen und was sonst noch alles kommen mag: „vereinigen" wollen die ProletarierInnen sich nicht, und mit ihren LeidensgenossInnen aus anderen Ländern erst recht nicht.

Wenn in Deutschland das Proletariat auf die Straße geht --- wie kürzlich bei den „Montagsdemonstrationen" oder den „wilden Streiks" bei Opel --- stellt es seine objektive Lage nicht etwa in Frage und kämpft grundsätzlich gegen seine alltägliche Ausbeutung am Arbeitsplatz, sondern es wünscht sich zurück in jene goldene Wirtschaftswunder-Zeit, als die Ausbeutung noch „menschlich" war und der Kapitalismus scheinbar „sozial". Das Modell der „Sozialpartnerschaft" zwischen Beschäftigten und Unternehmensführung, nichts anderes als ein zeitweilig geglückter Versuch, die objektiven Interessengegensätze zwischen Bevölkerung und Kapital durch allgemeinen Wohlstand zu befrieden und scheinbar abzuschaffen --- dieses in Krisenzeiten längst überholte Modell des „rheinischen Kapitalismus" dient auch heute noch einigen als Vorbild „linker" Politik. Nicht die Teilung in Besitzende und Nichtbesitzende, Arbeitende und Arbeiten-Lassende, nicht der untrennbare Zusammenhang von steigendem Profit und sich verschlechternden Arbeitsbedingungen, Überproduktion und Armut, Arbeitszeitverlängerung und Arbeitslosigkeit --- nicht dieser fundamentale Skandal der kapitalistischen Vergesellschaftung selbst soll angegriffen werden, sondern nur seine gegenwärtige Erscheinungsform, die doch ohne ihre ökonomisch-politischen Grundlagen gar nicht denkbar ist.

Es scheint fast so, als ginge es den Protestierenden um nichts anderes als darum, auf keinen Fall aus dem Verwertungszusammenhang herauszufallen; als ginge es ihnen gerade darum, arbeiten zu dürfen und im Zweifelsfall nur möglichst „sozialverträglich" aus ihren sozialen Zusammenhängen herauskatapultiert zu werden. Um nicht von schöpferischer Untätigkeit bedroht zu werden, bieten die noch Arbeitenden sogar bereitwillig an, auf Teile ihres Lohns zu verzichten --- als wäre Lohnarbeit ein Selbstzweck und das Bedienen von Maschinen im Takt der Stechuhr ein Privileg, für das kein Preis zu hoch und kein Lohn zu niedrig ist.

Wie wenig die direkt (d.h. beschäftigten) oder indirekt (d.h. arbeitslosen) Lohnabhängigen in Deutschland fähig und willens sind, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Karl Marx), machen die Slogans deutlich, die auf etwa auf den Montagsdemos 2004 auf Plakaten zu lesen waren. Da stand zum Beispiel: „MENSCHEN WÜRDE(N) ARBEIT(EN)". - Was soll das heißen? Hat Lohnarbeit, außer dass sie sie mit Füßen tritt, irgendetwas mit Würde zu tun? Definiert sich die menschliche Würde --- was auch immer diese eigentlich sein mag --- über Besitz oder Fehlen eines Jobs? Die entfremdete Lohnarbeit --- d.h.: Produkte herzustellen, die den Herstellenden selbst nicht gehören und die ihnen für teures Geld wieder verkauft werden - das Herumstehen in der Fabrikhalle, im Großraumbüro und im Call-Center --- das ist heute, nach 300 Jahren Aufklärung, der neue Ort der menschlichen Würde?

Nichts anderes kann gemeint sein. Und mehr noch schwingt in diesem Slogan mit: „Menschen würden arbeiten, wenn..." --- wenn was? Die realistische Antwort würde lauten: wenn da nicht der Kapitalismus wäre, dessen Prinzip es ist, dass Arbeit sich für das Kapital rentieren muss, was im Zeitalter der Maschinen bekanntlich nicht durchweg der Fall ist. Oder gar, aus linker Perspektive: Menschen würden eigentlich nicht arbeiten, wenn sie nicht dazu gezwungen wären!

Tatsächlich gemeint aber ist vielmehr der obrigkeitshörige Appell an die einzelnen UnternehmerInnen und PolitikerInnen: „Menschen würden arbeiten, wenn Ihr uns arbeiten lassen würdet!" Letztlich zeigt sich hier also ein absurder moralischer Appell an die AkteurInnen eines Systems, in dem es von Grund auf noch nie weder moralisch noch nach dem Willen einzelner AkteurInnen zugegangen ist; ein Appell an die Macht der Autorität, sich besser um ihre Untertanen zu kümmern, und zugleich eine Anerkennung und Legitimierung eben dieser Autorität. Die Unterwerfung geht schließlich soweit, dass die Bedingungen der eingeforderten Arbeit zur Nebensache werden: Flexibilisierung, unbezahlte Mehrarbeit und Lohnsenkungen sind allesamt akzeptabel, um dem Zustand der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Denn Arbeitslosigkeit wird in dieser Logik --- weil Arbeit eben Würde ist --- als soziale Stigmatisierung und Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben erfahren anstatt als Freiheit von Ausbeutung und Entfremdung. Die Aussicht auf Ein-Euro-Sklaverei gibt zur Zeit immerhin berechtigten Anlass, Arbeitslosigkeit realistisch als Stigma zu empfinden; die Stigmatisierung der Arbeitslosigkeit selbst aber wird nicht thematisiert. Stattdessen heißt es in den Reihen der Gewerkschaftslinken ebenso wie bei der SPD und der CDU: „Sozial ist, was Arbeit schafft!"

Es ist dies die grundlegende ideologische Verkehrung des Bewusstseins über die eigene Lage, die den Kapitalismus auszeichnet: die Aufrechterhaltung der eigenen Knechtschaft wird als Eigeninteresse der Individuen wahrgenommen, das es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt --- im Zweifelsfall gegen die Herren selber. Diese ideologische Verkehrung des Bewusstseins ist freilich weder ein neues Phänomen, noch ist es ein spezifisch deutsches Phänomen. Sehr deutsch jedoch ist die besondere Art und Weise, wie sich dieses falsche Bewusstsein hierzulande zuspitzt. Denn ist es allzu abwegig, in den Ein-Euro-Jobs eine neue Form des faschistischen Arbeitsdienstes zu erkennen? Spiegelt sich in der Anbetung der Arbeit nicht jene Tradition wider, die den Dienst an der Nation über alles vernünftige Eigeninteresse stellte? War es nicht der Fetisch Arbeit, der schon einmal alle Klassengegensätze zum scheinbaren Verschwinden gebracht hat, weil plötzlich alle --- Ausgebeutete und Ausbeutende --- im angeblich selben deutschen Boot saßen? Was ist die Ausgrenzung und Diskriminierung Nicht-Arbeitender prinzipiell anderes als der Ausstoß der Faulen und Verräter aus der Volksgemeinschaft?

Auch der mittlerweile wieder offen auftretende Antisemitismus erscheint in dieser Logik nur konsequent: postulierte der antisemitische Wahn doch seit jeher auf die Trennung zwischen einem bösen, „raffenden" (das heißt: faulen und „jüdischen", fremden) Kapital und einem guten, produktiven (der Volksgemeinschaft zugehörigen, „deutschen") Kapital; beharrte er doch seit jeher auf der typisch deutschen Trennung zwischen scheinbar „anständiger" Arbeit im Dienste der Nation und zersetzendem „Intellektualismus" im Dienste der bolschewistischen Zersetzung. Bis heute hat dieses Denken in weiten Teilen der Bevölkerung, und bis weit in die Linke hinein, Bestand.

In diesem „postfaschistischen" gesellschaftlichen Klima ist es nicht verwunderlich, wenn die von der CDU kürzlich wieder einmal neu angefachte „Patriotismus-Debatte" auf fruchtbaren Boden fiel und fällt. Aufgeschreckt durch die Landtagswahlerfolge der rechtsradikalen Parteien, die den bürgerlichen Parteien 2004 in Brandenburg und Sachsen erhebliches Wählerpotential abgegraben hatten, entdeckten Konservative ihre Vaterlandsliebe als Mittel, die auftretende Unzufriedenheit in ihrem Interesse zu kanalisieren. Sie rührten bewusst einen schwarzbraunen Kitt an, der die sich immer offener als Barbarei präsentierende Gesellschaft quer durch alle Schichten wieder zur „Nation" zusammenpappen sollte. Ein deutliches Beispiel für diese Tendenz zeigt sich im Ausspruch des sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt (CDU): Zu den braunen Stimmengewinnen meinte dieser, dass seine Partei nun verstärkt „nationale Themen" besetzen müsse, um wieder „an den Stammtischen" verstanden zu werden.

Diese allzu wohlwollende Empathie gegenüber dem „Volksempfinden" hat verschiedene Ziele und Hintergründe. Immer jedoch führt das Denken in Kategorien von „Volk" und „Nation", selbst wo es ganz harmlos und pazifistisch auftritt, zur Ausgrenzung all jener Menschen, die in diesen Konstrukten keinen Platz haben; immer schon lauert unter der Oberfläche nationalistischen Denkens die Möglichkeit des Pogroms: denn wo Deutsche sind, da sind immer auch Nicht-Deutsche; wo Patrioten sind, sind immer, per definitionem, auch Verräter; wo Volk ist, da sind immer auch Volksfremde.

Wenn sich auch bürgerliche PolitikerInnen (von Roland Koch bis Gerhard Schröder und Wolfgang Clement) gegenüber diesem Denken öffnen, so tun sie es vielleicht vor allem aus einem Grund: Für das Interesse des Gesamtsystems Kapitalismus ist der Nationalismus eine erfolgreiche Strategie, tatsächliche Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern und widerständiges Denken wirksam im Keim zu ersticken. Wir sitzen ja alle, erst recht im Konkurrenzkampf gegen die Polen und die Chinesen, in einem Boot. Diese Strategie ist nicht neu; sie ist spätestens seit Bismarck und Kaiser Wilhelm fester Bestandteil rechter Regierungspolitik. Gehörten zu dieser Strategie damals jedoch, wie später im deutschen Faschismus auch, zahlreiche soziale Zugeständnisse, welche die Bevölkerung an die Obrigkeit binden sollten und linkem Widerstand den Wind aus den Segeln nehmen sollten --- von Sozialleistungen bis „Kraft-durch-Freude"-Privilegien ---, so hat die gegenwärtige Krise nichts weiter zu bieten als die bloß noch ideologische Verschleierung der sich verschärfenden Ausbeutung und realen Verelendung. Um so seltsamer muss es erscheinen, dass das Proletariat auch heute noch so anfällig für völkisches Denken ist und es selbst mit produziert. Der „korporative", sozialstaatliche Kapitalismus gehört der Vergangenheit an, aber die Ideologie, die diesen begleitet, lebt fort als Relikt pseudolinker Wünsche und Hoffnungen, eine Rückkehr in die gute alte Zeit des sozialen Friedens wäre innerhalb des kapitalistischen Systems irgendwie möglich.

Tatsächlich aber zeigen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse heute unverhüllter denn seit langem. Ihnen ins Auge zu schauen heißt darum zunächst nicht mehr als: sich von der Sozialstaatspropaganda nicht einwickeln zu lassen. Denn der Sozialstaat war von vornherein nichts anderes als der Versuch des Kapitals, mögliche Revolutionen im Keim zu ersticken, indem der materielle Druck auf die Beschäftigten gemildert wurde. Wenn dieser Druck heute nicht mehr gemildert werden kann, ohne den Verwertungsinteressen des Kapitals zuwiderzulaufen, so bedeutet dies zunächst eine Chance der Bewusstwerdung, nämlich die Möglichkeit, sich der prinzipiellen Un-Möglichkeit bewusst zu werden, es könne im Kapitalismus jemals ein gutes Leben geben. Die gegenwärtige Krise ermöglicht --- bei allem Leid, das sie leider erzeugt --- auch die Einsicht in die fundamentalen Widersprüche eines Systems, das immer schon auf Barbarei und Ausbeutung, Entfremdung, Entwürdigung und Verelendung basiert.

Die Krise ist zugleich eine Chance, sich bewusst zu werden, dass der Hauptfeind noch immer im eigenen Land steht und dass nur die soziale Revolution, als „Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" (Marx), uns aus dem Elend befreien kann. Keine Obrigkeit kann uns die Aufgabe abnehmen, dem Kapitalismus sein wohlverdientes Ende zu bereiten. Keine Partei kann uns die Notwendigkeit abnehmen, uns selbst zu organisieren und die Regierung des Menschen durch den Menschen zu ersetzen durch eine Assoziation freier Individuen, in welcher der Reichtum der Einen nicht mehr das Elend der Anderen bedeutet. Eine Gesellschaft, in der die unwürdige Teilung der Menschen in Besitzende und Besessene endlich aufgehoben ist und in der es für alle Menschen heißt, unabhängig von Herkunft und Geschlecht: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!"

Der erste Schritt in diese Richtung muss darin bestehen, alle bestehenden Illusionen aufzugeben, der Kapitalismus selbst könne dauerhaft die Probleme lösen, die er seit seinem Bestehen unweigerlich erzeugt. Letztlich aber ist „die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf." (Marx) Der Weg, diesen Zustand selbst aufzugeben, führt nur über den Zusammenschluss derer, die von den Verhältnissen betroffen sind --- sei es als Arbeitende, Arbeitslose, als Studierende oder als Ausgegrenzte und Marginalisierte. Insofern sitzen wir tatsächlich alle in einem Boot. Anstatt uns gegeneinander ausspielen und spalten zu lassen in solche, die dazugehören und solche, die nicht dazugehören, müssen wir dem organisierten Klassenkampf von oben den organisierten Klassenkampf von unten entgegensetzen: den erbitterten Kampf gegen untragbare Verhältnisse --- gegen das Regiertwerden, gegen das Privateigentum, gegen die Ausbeutung. Stattdessen: für die Selbstverwaltung, für das gesellschaftliche Eigentum, für die soziale Revolution!

Für den Kommunismus! Für die Anarchie!

Peitschen?

24.02.2005

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,

ihr Unternehmen beschäftigt seit Januar 2005 sogenannte „Ein-Euro-Jobber". Wir wenden uns an Sie, weil wir entweder arbeitslos sind oder befürchten, es jederzeit werden zu können, weil wir also - genau wie Sie selbst - von Hartz IV betroffen sind bzw. früher oder später betroffen sein können.

Der „Ein-Euro-Job" ist der moderne Arbeitsdienst der Bundesagentur für Arbeit. Bezieher von Arbeitslosengeld II werden auf einen Arbeitsplatz vermittelt, an dem sie zusätzlich zu ihrer Sozialleistung bis zu 2 EUR in maximal 30 Wochenstunden dazuverdienen können. Wer nicht will, dem wird die Stütze gekürzt oder gestrichen. Wenn Sie demnächst einen Hartz IV-Jobber „zugeteilt" bekommen, wundern Sie sich nicht, wenn dessen Motivation, recht fleißig und kooperativ zu sein, gegen Null geht.

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Noch sind die „Ein-Euro-Jobs" als „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung" definiert, die laut Gesetz „zusätzlich und gemeinnützig" bzw. „im öffentlichen Interesse" sein müssen, wobei dies bereits jetzt sehr weit ausgelegt wird, wie v. a. die Vorschläge des rot-roten Berliner Senats zeigen. Aber auch die Industrie hat bereits ihr Interesse an dieser modernen Form der Zwangsarbeit signalisiert.

Dies verwundert nicht, denn der „Ein-Euro-Job" kostet Ihrem Unternehmen keinen müden Cent. Im Gegenteil: Er ist ein prima Geschäft. Ihr Unternehmen streicht pro Jobber ca. 300 EUR von der Bundesagentur für Arbeit ein, die für Verwaltungskosten und die „Qualifizierung" des Langzeitarbeitslosen vorgesehen sind. Seine „Aufwandsentschädigung", sprich maximal 2 EUR pro Stunde, erhält der Jobber vom Arbeitsamt.

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Tatsächlich wird er bei Ihnen keinen Abschluss machen können, der ihm auf dem Arbeitsmarkt in Zukunft irgendwas nützt. Sie werden diesen Menschen ganz nebenbei anlernen müssen, was aber völlig umsonst ist, da er den Betrieb nach längstens sechs Monaten wieder verlassen muss und Sie mit einem neuen Jobber von vorn beginnen. Die Maßnahmen dienen lediglich der Disziplinierung von Arbeitslosen, nicht ihrem beruflichen Fortkommen. (Niemand wird Ihnen Ihre eigene Arbeit in dieser Zeit abnehmen.)

Wenn es aber dazu kommen sollte, dass er Ihrem Laden tatsächlich Nutzen bringt - glauben Sie nicht, dass Ihr Chef Ihre Löhne dann bald unangemessen hoch finden wird? Er wird selbstverständlich darüber nachdenken, wie er die Struktur des Unternehmens so anpasst, dass er so viele Jobber wie möglich bekommt und so viele teure Arbeitskräfte wie irgend möglich los wird. „Ein-Euro-Jobber" haben kein reguläres Arbeitsverhältnis, wählen keinen Betriebsrat und haben auch sonst keine Arbeitnehmer-Rechte im Betrieb, dafür müssen sie befürchten, auch noch beim Arbeitsamt angeschwärzt zu werden, wenn sie nicht funktionieren, wie sie sollen.

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Das eigentliche Ziel dieser tollen „Arbeitmarkt-Reform" ist, Ihnen, den noch regulär Beschäftigten, zu zeigen wo die Reise hingeht! „Schnauze halten und Arbeiten - egal was, egal wieviel und egal zu welchen Bedingungen!" - Das soll die einzig gültige Parole sein. Für Sie und für die Jobber.

Ein Mittel dagegen ist, sich diesem Druck gemeinsam zu verweigern, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Dienst nach Vorschrift und Sand ins Getriebe sind dazu bewährte Mittel. Sie sind ganz unaufwändig und an jedem Ort möglich. Sie setzen nur eines voraus, um wirklich wirksam zu sein: die Solidarität der Kollegen untereinander. (Das sollte doch zu schaffen sein.)

P.S. Wer sich noch mehr über die aktuellen Angriffe auf unseren Lebensstandard informieren oder sich gemeinsam gegen die ganzen Schweinereien organisieren will, findet Informationen im Internet unter La Banda Vaga und der FAU