„Es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter sein" - Warum die Gewerkschaften Teil des Problems sind, nicht Teil der Lösung

17.10.2007

„Die Reallöhne in Deutschland sind so niedrig wie seit 18 Jahren nicht mehr", melden die Zeitungen. Seltsam eigentlich, denn die Gewinne der Unternehmen sind die ganzen Jahre über auf Rekordmarken gestiegen. An der Wirtschaftslage liegt es also, auch wenn das gerne behauptet wird, im Grunde nicht. Auch die Produktivitätssteigerung der Firmen müsste eigentlich dazu führen, dass immer mehr Menschen immer weniger arbeiten müssen --- während tatsächlich immer weniger Menschen immer mehr arbeiten müssen. Streiks gegen den Abbau von Arbeitsplätzen oder gegen massive Verschlechterungen von Arbeitsbedingungen gingen in den letzten Jahren fast ausnahmlos als Niederlagen zu Ende. Anscheinend waren die Beschäftigten zu schwach oder zu schlecht organisiert, um höhere Löhne durchzusetzen und einmal errungene Sozialstandards erfolgreich zu verteidigen. Aber ist die deutsche Gesellschaft nicht eine fortschrittliche Industrienation mit einem hohen Grad an gewerkschaftlicher Organisierung? Ist nicht die Aufgabe der Gewerkschaften die Organisation der Arbeiterinnen und Arbeiter im tagtäglichen Klassenkampf?

[]{.inline .inline-left}Mit Gewerkschaften sind die entsprechenden Interessenskonflikte offensichtlich nicht zu gewinnen. Vor lauter Realpolitik und Anbiederung an Wirtschaft und Staat haben sie die eigentlichen gesellschaftlichen Verhältnisse immer mehr aus dem Blick verloren. Wirtschaftliche Krisen, ob nun gesamtgesellschaftlich oder nur einen Betrieb betreffend, schreiben sie der schlechten Politik der regierenden Parteien oder dem Missmanagement der Unternehmensführungen zu. Dass Krisen aber der kapitalistischen Produktionsweise ihrem Wesen nach innewohnen kommt den Gewerkschaften nicht in den Sinn.

Indem Gewerkschaften sich auf die institutionalisierten Spielregeln der Sozialpartnerschaft und damit der ganzen herrschenden Ordnung einlassen, haben sie jeden Kampf im Grunde schon im Vorhinein verloren. Innerhalb der Spielregeln des Kapitals sind offene Kämpfe eben nicht vorgesehen. Ohne offene Kämpfe aber, ohne die Erzeugung wirtschaftlichen Schadens und handfesten materiellen Drucks auf die Gegenseite, kann eine Auseinandersetzung von Seiten der ArbeiterInnen nicht gewonnen werden. Um die Interessen der Belegschaften erfolgreich durchzusetzen, müssen Klassenkämpfe offensiv und nicht nur als leeres, handzahmes Ritual geführt werden.

[]{.inline .inline-right}Die Gewerkschaftsbürokratie aber steht für das genaue Gegenteil solcher Kämpfe. Im Streben um Anerkennung und „Gesprächsbereitschaft" ersticken die Regeln der Stellvertretungspolitik jeden Ansatz einer selbständigen Durchsetzung der eigenen Interessen. Entschlossene Kämpfe um bessere Lebensbedingungen oder die kämpferische Abwehr bevorstehender Verschlechterungen werden durch das deutsche Tarifrecht systematisch sabotiert. Das geltende Tarifrecht nämlich sieht Streiks nur in genau geregelten Ausnahmefällen, und auch dann nur in exakt vorgegebenen, eng umgrenzten Formen vor. So braucht es etwa, um einen Streik zu organisieren, eine förmliche Urabstimmung, bei der mindestens 3/4 der betroffenen Gewerkschaftsmitglieder für den Streik stimmen müssen. Umgekehrt reichen zur Beendigung desselben Streiks schon 1/4 der Stimmen.

Der Streik als ein um jeden Preis zu vermeidender Ausnahmefall, den es schleunigst zu beenden gilt --- die rückläufige Lohnentwicklung der Beschäftigten verwundert da kaum. Und „wilde Streiks", als spontane Aktionen der Basis, sind im Gewerkschaftsapparat noch weniger gern gesehen. Auch das verwundert nicht: Würden die Belegschaften anfangen, sich selbst zu organisieren, wäre die Gewerkschaft als Institution blitzschnell überflüssig. Vor nichts graut es der Stellvertretung daher so sehr wie vor dem selbstbewussten und autonomen Handeln derer, die sie vertritt.

[]{.inline .inline-left}Überhaupt bleibt der Blick der Gewerkschaften strukturell beschränkt --- die Ausblendung des Schicksals der zahlreichen Arbeitslosen ist nur das augenfälligste Beispiel dafür. Auch ideologisch haben die Gewerkschaften längst den Sinn für die soziale Realität verloren. Immer noch hängen sie dem Prinzip der angeblichen „Sozialpartnerschaft" an, nach dem die Interessen der ArbeiterInnen und die Interessen des Kapitals nicht entgegengesetzt, sondern identisch seien: „Wir sitzen ja alle im selben Boot." Das war schon bei der Einführung der Sozialgesetzgebung durch Bismarck, über den Burgfrieden im Ersten Weltkrieg und die Volksgemeinschaft im Dritten Reichs bis hin zur Sozialpartnerschaft der Nachkriegszeit der Fall: Derartige Konzeptionen konnten den sozialen Frieden stets nur dadurch gewährleisten, dass sie die entsprechenden Konflikte ins gesellschaftliche Unbewusste verdrängt hatten. Die Klassenkämpfe sind dadurch nie ganz verschwunden, sie konnten nur schlechter geführt werden.

Wo der Klassengegensatz derart verschwiegen wird, erschöpft sich die Aufgabe der Gewerkschaften darin, den Preis der Ware Arbeitskraft wenigstens halbwegs stabil zu halten. Der Kapitalismus selbst, das Prinzip der Ausbeutung und Entfremdung als Ganzes, wird so nicht in Frage gestellt, sondern als scheinbar natürliche Ordnung akzeptiert. Nicht nur sind die Gewerkschaften also schlechte Freunde des Proletariats. Sie sind vielmehr ihre Feinde, die es nicht weniger zu bekämpfen gilt als das Kapital selbst, dessen Herrschaft sie aktiv reproduzieren.

[]{.inline .inline-right}Meist rechtfertigt die Gewerkschaftsführung die für die Gewerkschaftsbasis enttäuschenden Verhandlungsergebnisse der Tarifauseinandersetzungen mit Sachzwängen wie den ökonomischen Rahmenbedingungen im Betrieb, im Land oder neuerdings in der Welt. Kaschiert wird dadurch jedoch die Tatsache, dass der faule Kompromiss von der aktiven Zustimmung der FunktionärInnen lebt, ohne die er nicht abgeschlossen werden kann. Richtig ist dennoch, dass durch ein Auswechseln der FunktionärInnen keine grundlegende Änderung der Situation erreichbar ist. Das Problem liegt in der Institution Gewerkschaft selbst --- ihrem Stellvertretungsanspruch, ihrer Einbindung ins System, nicht zuletzt auch in der hierarchisch-bürokratischen Struktur, auf der sie basiert. Sie gibt sich als Anwort auf die Organisationsfrage der ArbeiterInnenklasse aus und verhindert gerade dadurch deren Selbstorganisation. Wie der Staat, der die Subjekte auf ähnliche Weise „vertritt" und damit zugleich entmündigt, sind die Gewerkschaften das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgeben.

Immerhin regt sich immer wieder auch Widerstand gegen die Stellvertretung durch die Gewerkschaften, oder werden Kämpfe einfach an deren Institutionen vorbei geführt --- erfreuliche Zeichen der Bewusstwerdung der Arbeitenden als Klasse, die ihr Schicksal eben nur selbsttätig in die Hand nehmen kann. Als etwa im Juni 2007 bei der Berliner S-Bahn ein neues Dienstplansystem eingeführt werden sollte, das die Arbeitsbedingungen für die FahrzeugführerInnen massiv verschlechtert hätte, meldeten sich am Freitagabend spontan 50-60 FahrerInnen krank, was am Wochenende zu völligem Chaos im S-Bahnverkehr führte. Bereits am Dienstag galten wieder die alten Dienstpläne.

[]{.inline .inline-left}Auch in anderen Kämpfen der letzten Jahre blitzte hin und wieder so etwas wie eine subversive Spontaneität und Kampfkraft des Proletariats auf. In Bochum streikte im Oktober 2004 die Belegschaft der Firma Opel sechs Tage lang „wild" gegen die Kürzungspläne des Konzerns, aber auch gegen die Verhandlungstaktik der Gewerkschaften. Beim Bosch-Siemens-Haushaltsgerätewerk (BSH) in Berlin organisierten 2006 die ArbeiterInnen eigenständig das Zusammenkommen mit anderen Belegschaften und versuchten einen Austausch über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Beine zu stellen --- bis die Gewerkschaften diese Aktivitäten schließlich erfolgreich unterbanden.

Derart unabhängige Kampfformen --- hierzulande noch in den Kinderschuhen --- sind in anderen Ländern bereits sehr viel weiter verbreitet. Vor allem in Frankreich kam es in den vergangenen Jahren zu einigen spektakulären Aktivitäten, etwa bei den vielbeachteten Protesten gegen einen umstrittenen Ersteinstellungsvertrag (CPE), der schließlich zurückgenommen werden musste, oder bei den Kämpfen der Arbeitslosen-, Obdachlosen- und Papierlosenbewegung. Spektakulär waren auch die Aktionen der ChemiearbeiterInnen bei Cellatex in Givet, die zur Verhinderung der geplanten Betriebsschließung drohten, Chemikalien in einen nahe gelegenen Fluss einzuleiten, bzw. die ganze Fabrik mitsamt der darin befindlichen Chemikalien in die Luft zu sprengen. Als ein Ultimatum der ArbeiterInnen abgelaufen war, leiteten sie dann tatsächlich eine rote (aber unschädliche) Flüssigkeit in den Fluss, womit sie tatsächlich eine Wiederaufnahme der Verhandlungen erreichten.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs --- die meisten Kämpfe finden untergründig statt, jenseits medialer Aufmerksamkeit. So kam es etwa im Vorfeld des Streiks im AEG-Werk in Nürnberg 2006 zu massenhaften Krankmeldungen und Sabotageakten, die die Arbeit in der gesamten Fabrik immer wieder lahm legten. Und gerade solche Aktionsformen führen meist um einiges schneller zu Reaktionen und erzeugen um einiges mehr Druck als die tarifrechtskonformen Verhandlungstaktiken der Gewerkschaften.

[]{.inline .inline-right}Die Gewerkschaften sind, gemeinsam mit dem Rest an Vertrauen, der der Sozialdemokratie noch immer von manchen entgegengebracht wird --- sei es in Form der alten SPD oder in Form der neuen Linkspartei --- ein zentrales Hindernis erfolgreicher Klassenkämpfe. Wirkliche Verbesserungen der eigenen Lage sind mit Hilfe des institutionalisierten Spektakels der Gewerkschaften und der Parteien nicht zu haben. Um ihre Interessen wirklich durchzusetzen, müssen die Arbeitenden deshalb das Spiel der Institutionen rechts liegen lassen und stattdessen anfangen, sich radikal selbst zu organisieren.

La Banda Vaga, Oktober 2007

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